Erotik in der Bibel? Bevor Sie folgenden Artikel hier lesen, tun Sie sich etwas Gutes: Nehmen Sie sich die Zeit und lesen das „Lied der Lieder“ (Hohelied) in der Bibel – am besten laut für sich. Sie brauchen dafür etwa 20 Minuten.
Und? Haben Sie es gelesen? Und genossen? Was für eine Dichtung! Was für eine Sprache! Ein Liebesdrama, das sich vor unseren Augen entfaltet. Die junge Frau preist den Geliebten, der junge Mann die Geliebte. Abwechselnd werden die Vorzüge des/der anderen beschrieben, in jeder Hinsicht. Der/die Geliebte ist dabei als ganzer Mensch im Blick: Leib und Seele, Körper und Psyche, Schönheit und Anmut.
Knisternde Erotik
Erotik in der Bibel: Welch vielfältiger Ausdruck seelischen Empfindens begegnet uns hier: Bewunderung, Anziehung, Übertreibung, Prahlerei, Zärtlichkeit, Sinnlichkeit, Lust, Rausch, Traum … – aber auch Unruhe, Sehnsucht, Begehren, Verwirrung, Wagnis, Trauer, Verzweiflung. Diese Poesie beherrscht wahrlich das „feeling vocabulary“. Und – sie ist voll knisternder, prickelnder Erotik vom ersten Vers an: „Er tränke mich mit den Küssen seines Mundes! Ja, gut tut mehr als Wein deine Liebe, gut tut der Duft deiner Öle …“. Kosmetik und Schmuck kommen nicht zu kurz: Düfte und Aromen, Öle und Salben für Körper, Kleider, Liebesnester; dazu Kettchen, Geschmeide, Tücher und Schleier. Und viele Metaphern für Liebe, Eros und Sexualität: Garten und Weinberg, Traubenkuchen, Granatäpfel, Essen und Trinken, Balsam, Feuer und Glut – oft verbunden mit einem Hauch von Luxus und Exotik.
Eine unbefangene, eine ganz und gar positive Schilderung menschlicher Sexualität und Erotik, mitten in der Bibel! Nur deshalb konnte diese Liebeslyrik in der jüdischen und später auch der christlichen Auslegung als Allegorie, als Bildrede auf die leidenschaftliche Beziehung zwischen Gott und seinem Volk gelesen werden. Interessant auch der Kontrast zu Gen 3,16: Das sexuelle Verlangen, das bei der Vertreibung aus dem Paradies als „Fluch der bösen Tat“ gilt, ist im Hohenlied stimulierende Kraft. Und während es dort einseitig der Frau zugeschrieben wird, ist es hier wechselseitig.
Freud und Leid
Die Liebe entspringt aus der tiefsten Mitte des Menschen: der Seele, dem Inbegriff seiner Personalität: „den meine Seele liebt“ (1,7; 3,1.2.3.4) – das heißt: „den ich mit meiner ganzen Person, meinem ganzen Sein, mit jeder Faser meiner Existenz liebe“.
Daher hat die Liebe das Recht auf ihre eigene Zeit und ihren geschützten Raum (1,16f; 2,6f; 3,4; 7,12f). Sie hat ihre „Hoch-zeiten“ und ihre „Not-zeiten“: Höhepunkte wie das heimliche Rendezvous im Frühling (2,8-17), die Begegnungen im Garten (4,16-5,1; 6,1-3; 8,13), unterm Apfelbaum (8,5), im Haus der Mutter (2,4; 8,2), und wie – sicher nicht von ungefähr im Zentrum des Buches – die berauschende Vereinigung der Liebenden: „In seinen Garten komme mein Geliebter und esse von seiner köstlichen Frucht. – Ich komme zu meinem Garten, meine Schwester-Braut, ich pflücke meine Myrrhe mit meinem Balsam, ich esse meine Wabe mit meinem Honig, ich trinke meinen Wein mit meiner Milch. Esset, Freunde, trinket, und berauschet euch an der Liebe.“ (4,16-5,1) Das ist Erotik pur – in der Bibel! Aber es gibt eben auch Schmerzpunkte: die unbändige Sehnsucht (1,7f; 2,5.17; 3,1-3; 4,9; 5,2-5.8; 6,1), die Enttäuschung (5,6), die herbe Gewalterfahrung (5,7; 7,1; 8,9).
Diese Hoch- und Tiefpunkte der Liebe spüren die Lesenden auch dann, wenn sie z.B. gar nicht wissen, dass Myrrhe (5,1) in der Antike als Parfüm und Aphrodisiakum verwendet wurde, dass Granatäpfel (4,13) ebenfalls der Liebesstimulanz dienten, dass die in 4,14 genannten Pflanzen in Palästina gar nicht vorkommen und ein exotisches Flair erzeugen, dass es ein Phantasiegarten ist, der hier beschrieben wird, ein Paradies der Liebenden.
Liebende im kulturellen Kontext
Eindrücklich sind die Beschreibungen der Vorzüge des/der Geliebten, stark auch die Bilder für leidenschaftliche Gefühle: „krank bin ich vor Liebe“ (2,5; 5,8), „du hast mir das Herz versehrt“ (4,9), „gewaltsam wie der Tod ist die Liebe“ (8,6.) Eine geheimnisvolle, unbeherrschbare, zueinander drängende Dynamik: die Macht der Liebe, die sich – das wird im folgenden, letzten Teil noch einmal sehr deutlich – auch gegen gesellschaftliche Konventionen, gegen familiäre Ansprüche, gegen das „Wohlwollen“ des nächsten Umfeldes behaupten muss – und kann. Denn damals wie heute – so realistisch ist die Bibel – bewegen sich die Liebenden nicht im luftleeren Raum, sondern unter den jeweiligen kulturellen und rechtlichen Gegebenheiten. Die sind der Liebe nicht immer förderlich; doch kann sie sich – jedenfalls im Hohenlied – von diesen Zwängen, hier der patriarchalen Kontrollinstanz der Brüder (1,6; 8,8f), emanzipieren.
Das Hohelied als Allegorie?
Zum Schluss will ich noch kurz auf die allegorische Deutung zurückkommen. Einem unbefangenen Leser würde sie ja nie in den Sinn kommen. Man kann sie als Versuch einer Antwort auf die Frage verstehen, wieso diese Liebeslyrik überhaupt in der Bibel steht. Allerdings: für die Antwort braucht es die Klimmzüge der Allegorese nicht – und der Text gibt sie auch nicht wirklich her. Denn die theologische Bedeutung des Liedes der Lieder ist ihm innewohnend: die göttliche Dimension der erotischen Liebe, die schöpfungsgemäße Bejahung von Sinnlichkeit, Wonne, geschlechtlicher Vereinigung. Ganz menschlich gelebt, erschließt sie ihr göttliches Geheimnis – unausgesprochen. So kommt auch das Wort „Gott“ im Lied der Lieder gar nicht vor; der Gottesname allenfalls angedeutet in 8,6: die „Jah-Flammen“, sie könnten auf die Glut, die Hitze, die himmlische Ekstase der Liebe anspielen – oder sie bezeichnen schlicht den Superlativ der Leidenschaft.