Die Sexualität ist eine Urkraft. Verklemmte Christen übersehen: Sie dient nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der Festigung der Partnerschaft. Unter Erotik verstehen wir alles, was uns zum anderen hinzieht und uns in einen gehobenen emotionalen Zustand versetzt. Erotik ist nichts Obszönes, sondern meint die Schönheit des Körpers und den Reiz, der von ihm ausgeht.
Dieser Reiz beeinflusst uns bei der Partnersuche. Er ist aber nicht der einzige Faktor, der zu einer Entscheidung führt. Je länger wir uns mit jemandem beschäftigen, desto mehr fallen seine Gaben, seine Beziehungsfähigkeit, seine Persönlichkeit ins Gewicht. Man heiratet einen Menschen nicht (nur) wegen seiner körperlichen Attraktivität. Die gesamte Wertschätzung des anderen fließt mit ein. In seiner Nähe fühlt man sich wohl.
Erfüllte Sexualität im Wir
„Die Geschlechtlichkeit ist kein ‚niederer Trieb‘, sondern im Gegenteil der höchste Trieb des Menschen, nämlich der einzige, der über das Ich hinausweist zum Partner und zum Kind.“ +1 Die Tiefendimension der ehelichen Bindung findet sich schon in 1 Mose 2,24. Aus dem Ich und dem Du wird ein Wir (ein Fleisch, d. h. eine untrennbare, neue Einheit). Nur im Wir ist erfüllte Sexualität möglich. Wer ausschließlich die Befriedigung eigener Bedürfnisse im Blick hat, missbraucht den anderen. Die reife Liebe sucht vorrangig das Glück des Partners und erst nachgeordnet das eigene.
Sexuelle Kontakte, oft spontaner und kurzlebiger Art, hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie sind auf der Ebene der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung angesiedelt. Einer Umfrage zufolge führen jeder vierte Mann und jede zehnte Frau ständig Kondome mit sich, um bei sich bietender Gelegenheit ein sexuelles Abenteuer einzugehen: Speed-Sex, Quickie, One-Night-Stand u. ä.
Es ist nicht nur ein moralischer, sondern auch ein theologisch-substanzieller Unterschied, ob man sich mit seinem Ehepartner oder mit einem „sexuellen Dienstleister“ vereinigt. Die Verbindung mit dem Ehepartner nennt Paulus „ein Fleisch“ (unter Bezugnahme auf 1 Mose 2,24), den Kontakt mit Prostituierten dagegen „ein Leib“ (1 Korinther 6,16). Die geistliche Dimension der sexuellen Vereinigung ist bei einer nicht-ehelichen Beziehung nicht gegeben.
Die Beziehung mit dem geliebten Menschen ist auf Dauerhaftigkeit angelegt. Vorbehaltlose Hingabe und Geborgenheit ermöglichen die Begegnung der beiden Seelen. Man findet sich im Herzen des anderen wieder und „erkennt“ einander, wie Adam seine Frau „erkannte“ (1 Mose 4,1). Dies ist kein kognitives oder intellektuelles Erkennen, sondern es ist existenziell und spirituell.
Die Bibel ermutigt uns, die Schönheit des Körpers wahrzunehmen: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele“ (Psalm 139,14).
Abwertung der Frau
In nachbiblischer Zeit flossen körperverneinende Ideen ins Christentum mit ein. Manche philosophischen oder religiösen Denkrichtungen strebten eine Vergeistigung an. An die Stelle der Lebensfreude und des fröhlichen Genusses trat die Relativierung der von Gott geschenkten Gaben. Nur was einen himmelwärts brachte und das ewige Leben förderte, sollte erstrebt werden. Irdische Dinge wurden als geringwertig angesehen. Für die „geistlicheren“ Menschen war eine praktizierte Sexualität ausgeschlossen. Ehe und Familie wurden zwar nicht schlecht geredet; aber die Priorisierung von Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit signalisierten die Zurückstufung des gottgewollten Ehestands.
Da Eva als erste die Frucht genommen hatte (1 Mose 3), stellte die Frau nach Ansicht einiger Kirchenväter eine Gefahr dar. Die Sexualität ließ sich zwar nicht negieren: sie sollte im Rahmen der Familie für Nachkommenschaft sorgen. Es war allerdings nicht erwünscht, dass das Verlangen von der Frau ausging oder dass das Paar genüsslich beisammen war. Was man wesentlich später als „eheliche Pflicht“ bezeichnete, nahm hier seinen inhaltlichen Ursprung. Man sollte sich nicht verweigern (siehe auch 1 Korinther 7,5), aber ein „Fest der Sinne“ (wie z. B. im Hohelied Salomos) erschien undenkbar.
Die Abwertung der Frau wurde theologisch begründet, ebenso die Vorherrschaft des Mannes über die Frau. Der weiteren Unterdrückung der Frau war damit die Tür geöffnet. Bis in die Neuzeit hängt den Kirchen das Erbe des 2. und 3. Jahrhunderts an. Bis die Frauen dieselbe hohe Bewertung erfuhren, die sie in der Bibel haben, hat es ca. 1.800 Jahre gedauert.
Warum gibt es so viele verklemmte Christen?
Warum gibt es so viele verklemmte Christen? Meines Erachtens hat dies zwei Gründe:
1. Die Verkündigung hat über Jahrhunderte stark moralisiert. Sinnliche Freuden waren verpönt, weil sie vom himmlischen Ziel ablenkten. Die Sexualität zählte auch dazu. Freude an der Körperlichkeit erschien suspekt. Seit der Frühzeit der Kirche galten Askese und Unterdrückung körperlicher Bedürfnisse als erstrebenswert. Wer in sich erotische Gefühle wahrnahm, hatte Schuldgefühle und ging in die Seelsorge. Dabei wurde die Verklemmung oft zementiert. Man denke nur daran, welch schreckliche Folgen man noch vor wenigen Jahrzehnten der Masturbation unterstellte: Tuberkulose sowie Schäden am Gehirn und Rückenmark sollten daraus resultieren.
2. Gerade verklemmte Christen haben oft Persönlichkeitsdefizite, die noch einer Reifung bzw. eines therapeutischen Zugangs bedürfen. In mehr als 40-jähriger Seelsorge bei Ehe- und Sexualproblemen habe ich oft beklagt, dass manche Menschen mit der Bekehrung aufhören, sich in ihrer Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Die persönliche und existenzielle, psychologische und philosophische Auseinandersetzung mit Lebensthemen und Seinsfragen unterbleibt. Die Entwicklung zu einem kritischen und eigenständig denkenden Wesen stagniert. Man übernimmt stattdessen religiöse Vorgaben und bewegt sich im geistlichen Mainstream.
Sexualität genießen
Während das Tier auf den Begattungsakt zudrängt und danach den Sexus völlig dispensiert, „verlangt der Mensch – und hier wieder besonders die Frau – nach einer dauernd erotisch getönten Atmosphäre, nach persönlicher Nähe und nach vielfach gerade kleinen, die Atmosphäre gleichsam tönenden und sie nicht nur als ekstatischer Blitz durchzuckenden Erweisen der Zusammengehörigkeit.“ +2
Die Erotik nimmt einen wichtigen Platz in der Kommunikation ein. Mann und Frau drücken damit aus, was zuvor schon durch Worte und Gesten deutlich wurde: „Du bist einzigartig“, „Ich liebe Dich“, „Ich gehöre ausschließlich zu dir“, „Mit dir will ich mein ganzes Leben verbringen“ etc. Die Erotik bedient sich des Mundes (Sprache), der Hände (Streicheln) und der Genitalien (sexuelle Vereinigung). Es gibt viele Nuancen: Worte, Gesten, Streicheln. Man stimmt sich aufeinander ein. Die Wertschätzung des Partners auch im Alltag durch liebevolles, rücksichtsvolles, hingegebenes Verhalten zu bekunden, ist unerlässlich.
Im Tierreich gibt es gewisse Zeiten (Brunst, Balz), die der Sicherung des Nachwuchses dienen. Sind diese „heißen“ Phasen vorbei, verhalten die Tiere sich quasi asexuell. Der Mensch dagegen ist ständig von seiner biologischen und psychischen Sexualität geprägt. Das Hauptanliegen ist, das Du zu finden und mit diesem Du zu verschmelzen, gerade auch innerlich.
Die Bibel ermutigt uns, Sexualität zu genießen: „Erfreue dich an deiner Frau, die du als junger Mann geheiratet hast. Bewundere ihre Schönheit und Anmut! Berausche dich immer wieder an ihren Brüsten und an der Liebe, die sie dir schenkt!“ (Spr 5,18f.) Das Hohelied Salomos geht in Details: die Sehnsucht nach dem Kuss (Hld 1,2), die Schönheit des Schoßes und der Brüste (Hld 7,3.4.9). „Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen“ (Hld 7,11).
Gelungene Sexualität in der Ehe
Während der Mann seinen Orgasmus und den seiner Frau als Ziel der körperlichen Vereinigung ansieht, ist für viele Frauen der Orgasmus zwar schön, aber nicht das eigentliche Ziel. Die gesamte Vorbereitungs- und Hinführungsphase haben für sie eine große Bedeutung. Sie wollen umworben sein, und zwar schon Stunden, bevor man zu Bett geht. Liebevolle und wertschätzende Worte sollte der Mann tagtäglich aussprechen. Wer eine Frau gewinnen will, erreicht über ihr Ohr das Herz. Doch auch der Umgang miteinander spielt eine Rolle: Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Fähigkeit des aktiven Zuhörens öffnen das Herz der Frau.
Wenn man zärtlich miteinander sein will, sollte es keine störenden Geräusche oder Gerüche geben. Ein gepflegter Körper steigert das Begehren. Seife, Öle und andere Düfte können ebenso stimulierend sein wie verführerische Dessous, gedämpftes Licht, eine angenehme Hintergrundmusik etc. Man kann über eine lockere Unterhaltung (keine Konfliktthemen) das gemeinsame Interesse steigern.
Für ein „Fest der Sinne“ benötigt man Zeit. Man besteigt nicht einfach den geliebten Menschen, sondern hat ihn (sie) vorher durch Streicheln, Küssen, Liebkosungen, bewundernde Worte u. ä. vorbereitet. Alle Bereiche des Körpers dürfen geküsst und liebkost werden, sofern es dem Partner Freude bereitet. Im Lauf der Jahre verändern sich manche Vorlieben, und man entwickelt neue. Ausprobieren, was gut tut und gefällt, gilt auch für den Bereich der ehelichen Sexualität.
Nicht immer hat man die Zeit für eine so intensive Begegnung. Dann kann eine „Kurzfassung“ akzeptabel sein. Manche Frauen lieben außer der Penetration auch die orale und manuelle Stimulation. Das kann genussvoll sein. Die vielen weiteren Varianten partnerschaftlicher Erotik zu beschreiben, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Anmerkungen
1 Theodor Bovet, Die Ehe – das Geheimnis ist groß, Tübingen 1962, S. 68.
2 Helmut Thielicke, Theologische Ethik, 3. Band Entfaltung, 3. Teil Ethik der Gesellschaft, des Rechtes, der Sexualität und der Kunst, Tübingen 1964, § 1948.