Hat das Leben einen Sinn?
Die Arbeit im Krankenhaus war getan, ich begab mich in mein Appartement im 15. Stock des Wohnheims und genoss den herrlichen Blick über die Gipfel des Schwarzwaldes. Alles schien gut. Plötzlich verspürte ich den Drang, hier aus dem offenen Fenster springen zu sollen. Ein stundenlanger innerer Kampf begann. War dies der Beginn meiner Lebenskrise oder der Beginn meines Lebens? Viele Wochen rang ich mit der Sinnlosigkeit meiner Vergangenheit. Tiefe, faulende Wunden brachen auf, und ich fragte mich, ob mein Leben Sinn habe.
Als Sohn eines durch Gefangenschaft im 2. Weltkrieg schwer traumatisierten Vaters führte ich ein Doppelleben. Äußerlich war alles in Ordnung, innerlich war ich einsam und verängstigt. Häufige, auch alkoholbedingte, Krisen meines Vaters musste ich emotional mit auffangen, da ich oft der Einzige war, der Zugang zu ihm hatte. Im Schlafanzug rannte ich hinter ihm her, als er sich erhängen wollte, und oft war ich abends der Letzte und morgens der Erste, wenn er sich zum Sterben im Keller einschloss.
Meine Mutter hatte depressive Phasen mit schier unaufhörlichen Weinkrämpfen, wir Kinder standen völlig überfordert an ihrem Bett. In meiner Krise entdeckte ich, dass diese Überforderung als bedürftiges Kind eine meiner tiefsten Wunden war. Sie war verschlossen an der Oberfläche, aber hochgradig zerstörerisch im Innern. Durch die Krise sah ich die Muster. Ich suchte diese Überforderung: Notfälle aller Art in der Ambulanz, Aktivitäten in der Psychiatrie und an den freien Wochenenden noch Mitfahrt im Notarztwagen.
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
Ich war an der Grenze zwischen Leben und Tod und suchte intensiv nach Gott. In vielen Büchern ging ich den Krisen anderer Menschen nach, die am Ende dieses Ja von Gott erhielten. In unzähligen seelsorgerlichen Gesprächen führte mich Gott nach und nach in sein Leben mit Sinn. Die Kämpfe drangen immer wieder durch, und eine innere Stimme versuchte mir zu sagen, dass ich nicht leben dürfe. Die Psalmen der Bibel wurden eine große Schatztruhe für mich, und ich erkannte, dass ich sein darf.
Nach der Erkenntnis der Überforderung ging ich zwar von der Notfallambulanz weg und übernahm die Geschäftsführung einer Suchtklinik für Männer, aber auch hier war Überforderung mein ständiger Begleiter. Nun lebte ich allerdings mit Gott, der mich auf wunderbare Weise mit Erfolgen durch diese Zeit führte. Bei einem Seminar über „Die vergessenen Kinder von Suchtkranken“ sprach mich die Referentin dann so tief im Herzen an, dass ich nachher auf dem Zimmer nur auf die Knie gehen und weinen konnte. Wieder brach eine Wunde auf und wieder durfte ich sie in seelsorgerlichen Gesprächen Gott hinhalten – zur Heilung.
Danach übernahm ich, verrückterweise, ein vor der Schließung stehendes Kinderheim – nicht als Leiter, sondern meiner Geschichte gemäß als alleiniger Träger. Wir verkauften alles, um dieses marode Heim zu bekommen, und mit einigen Wundern wurde es zur Heimat für viele Kinder.
Aus einem Kinderheim wurden zwei, dazu kam eine große ambulante Arbeit mit über 100 benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Vor zwei Jahren entwickelten wir die Akademie EIGEN-SINN für gewaltpräventive Trainings, und letztes Jahr gründete ich einen Waldkindergarten.
Sinnvoll leben
Als ich dann eine Fortbildung zum systemischen Familientherapeuten machte, entdeckte ich in meiner Familiengeschichte viele Tabus: Mein Vater hatte einen anderen leiblichen Vater. Er wusste es nicht und wollte es auch nicht glauben. Mein Opa, den ich so sehr liebte, war also nicht mein leiblicher Opa! Eine tiefe Krise meines Mannseins bzw. Mannwerdens begann, die nächste Wunde brach auf. Im Laufe der Zeit wurde ich barmherziger mit meinem Vater und konnte mich immer mehr mit unserer Familiengeschichte identifizieren.
Meine Wunden wurden dabei zum Nährboden für die Arbeit mit unzähligen Benachteiligten. Das Leben mit Gott hat mir meine echten Wurzeln gezeigt, und durch das Denken des KZ-Überlebenden und Arztes Viktor Frankl durfte ich meinen Lebenssinn entdecken.
Immer noch ist Überforderung meine Gefahr. Nun erkenne ich jedoch vieles schon vorher. Seit sechs Jahren male ich meine Gedanken zur „gefühlten Gewalt“, habe die Stiftung EIGEN-SINN für unsere spendenfinanzierten Projekte gegründet und sammle notwendigerweise (nebenher) Monat für Monat über 30.000 Euro (Überforderung?).
Heute kann ich sagen: Mein Leben macht Sinn. Jedes Leben macht Sinn. Packen wir`s an!