Verlassen

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Verlassen

Die Welt ist voll von verlassenen Männern, Frauen und Kindern. Mein Herz ist davon berührt, persönliche Erinnerungen steigen hoch, Gefühle bedrücken mich und legen sich wie eine Schlinge um meinen Hals. Das Loch, das ein geliebter Mensch hinterlässt, wenn er einen verlässt, bohrt sich tief in unsere Seele; zurück bleibt eine schmerzende und eiternde Wunde.

Als Arzt weiß ich, dass man solch eine tief infizierte Wunde offen behandeln muss. Danach muss sie langsam von innen nach außen granulieren. Näht man sie hingegen zu, kann die Entzündung noch weiter fortschreiten und lebensbedrohlich werden. Es gibt kein schnelles Pflaster oder Allheilmittel für einen Menschen, der zerbrochen ist.

Im Stich gelassen

Unsere Gesellschaft funktioniert mehr oder weniger gut, wenn sich einer auf den anderen verlassen kann. Das gilt auch am Arbeitsplatz, in der Familie, in unseren christlichen Gemeinden und Gemeinschaften. Enttäuschend ist es, wenn man sogar unter Christen erlebt: Ich kann mich doch nicht auf den anderen verlassen!

Leider erleben wir das öfter als uns recht ist. So ging es schon Jesus: Nach seiner Verhaftung stand er völlig allein da, verlassen und im Stich gelassen von allen seinen Jüngern. Auch wir werden oft verlassen – von Freunden, vom Ehepartner, von Eltern … 

Verstehen wollen

Wir können in der Bibel lange suchen, bis wir eine Stelle finden, die uns versichert, dass uns als Christ auf alle Fälle jede Form von Leid erspart bleibt. Erlebt man Leid, hadert man leicht mit seinem „Schicksal“, sucht vielleicht die Schuld bei anderen oder gerät in Selbstvorwürfe. Ungeklärte Fragen quälen einen: „Wenn ich es wenigstens verstehen könnte! Wenn ich nur eine Antwort finden würde auf das Warum! Dann ginge es mir vielleicht besser.“

In meiner Arbeit als Psychiater treffe ich oft auf Menschen mit gebrochenen Biografien: Alles hat man sich sorgfältig zurecht gelegt. Man hat sein Leben geplant, alles lief – bis der Bruch kam. Einen solchen „Bruch“ kann man nur dann wirklich nachempfinden, wenn man so etwas selber erleben musste. Mir hätte es früher in den Situationen, in denen ich mich selbst verlassen fühlte, gut getan, echte Freunde an meiner Seite zu haben. Aber da war keiner, der mein Jammern und meine Verzweiflung aushalten konnte. Auch die christlichen Freunde waren plötzlich verschwunden und hüllten sich in Schweigen. Sie fühlten sich vermutlich überfordert mit mir und meiner Situation.

Geduldig da sein

In der Therapie mit Klienten erlaube ich Weinen, Anklagen und Klagen, lasse Selbstvorwürfe und Hoffnungslosigkeit zu. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass „fromme Sprüche“ nicht wirklich trösten in einer scheinbar ausweglosen Situation, in der man sich verlassen fühlt. Was aber hilft, ist, wenn jemand zuhört, seine Freundschaft anbietet, treu zu einem steht und Geduld übt, bis die tiefe Wunde ganz langsam von innen her zu heilen beginnt.

Gott als Kraftquelle

Das Leben – auch das Leben mit Gott – kann Leiden bedeuten. Es bedeutet nicht, einen Platz in der Komfortzone einzunehmen, wo es mir immer nur gut geht. Nein, es kann bedeuten, mittendrin im Leid zu sein und oft auch dort bleiben zu müssen. Doch auch dann gilt: Gott, der mit uns leidet, bleibt uns treu. Er selbst ist in seinem Sohn durch tiefstes Leid gegangen, er versteht uns. Er gibt uns Kraft, mitten in unserer Schwachheit (2 Kor 12,9f.). 

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