Vater, liebst du mich?

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Vater, liebst du mich?

Esaus tiefe Sehnsucht kennen auch viele von uns: „Vater, segne doch auch mich!“ – Geht es Ihnen genauso? Fehlt auch Ihnen der Segen Ihres Vaters? Ist auch in Ihrem Herzen ein ähnlich schmerzhafter Ruf zu vernehmen, wenn es still um Sie her ist und Sie sich an Ihr Elternhaus erinnern?

Bedürfnis nach Wertschätzung

Es ist ein natürliches Bedürfnis, wertvoll für Menschen zu sein, die wir lieben. Unsere Eltern sind solche Menschen. Schließlich haben wir es auch ihnen zu verdanken, dass wir sind. Sie sind es, die sich dafür entscheiden, uns auf die Welt zu bringen. Anschließend sorgt die Mutter für unser frühes Überleben. Der Vater wird zum wichtigsten Mensch für einen Jungen während seiner Reise von der Kindheit zum Erwachsensein. Fehlen die segnenden Worte des Vaters, entsteht in dem jungen Herzen eine lebenslange Suche danach.

Zudem breitet sich ein Gefühl der Unzulänglichkeit aus: „Warum sagt mir mein Vater nichts Gutes? Die Antwort kann nur sein, dass nichts dergleichen an mir zu finden ist“ – so denkt ein Kind. Es gewinnt keine Klarheit über die eigene Identität. Stattdessen durchziehen fortan Unsicherheit und das Gefühl, nicht zu genügen, das ganze Leben. Leidvolle Erinnerungen bleiben zurück. Daran bleibt ein junger Mann emotional angekettet. Er kommt nicht los von seinem Zuhause, egal, wie weit entfernt er auch sein mag, geografisch oder zeitlich.

Kein Mann vieler Worte

Sebastian war mittlerweile 40 Jahre alt, seit 15 Jahren verheiratet und selbst Vater von zwei Jungs im Teenageralter. Er kam zu mir in die Beratung, weil es zunehmend mit seinen „Boys“ zu Konflikten kam und er sich langsam hilflos fühlte. Nachdem ich mir seine Beschreibungen angehört hatte, sagte ich: „Für mich hört sich das an wie: ‚Bitte sag mir, dass du mich liebst, bitte!‘“

„Aber ich liebe meine Söhne doch!“, protestierte Sebastian.

„Daran besteht kein Zweifel“, entgegnete ich, „aber woher wissen die beiden Burschen das denn? Wann hast du ihnen das zuletzt gesagt?“

„Hm, gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin kein Mann von vielen Worten. Ich tue mich schwer, so etwas zu meinen Söhnen zu sagen. Das fällt mir bei meiner Frau schon schwer genug.“

„Woher sollen deine Kinder dann wissen, dass du sie liebst?“ fragte ich weiter. „Wenn sie es nicht zu hören bekommen, wie sollen sie es dann glauben? Aus deinem Verhalten können sie es nur mutmaßen, aber wissen können sie es nur, wenn du es ihnen mit eindeutigen Worten bestätigst.“ Ich fragte ihn, woher er wüsste, dass sein Vater ihn liebt, wenn er es ihm nicht auch gesagt hätte.

„Hat er nicht!“, kam es von Sebastian wie aus der Pistole geschossen. „Hat er nie! Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals ein gutes Wort über mich verloren hätte. Was machen wir jetzt damit? Mein Vater hat seine Liebe zu mir nicht in Worte fassen können und ich kann es offensichtlich auch nicht.“

Nach einigen Überlegungen fasste Sebastian den Entschluss, seinem Vater, der seinen Ruhestand auf Teneriffa verbrachte, einen Brief zu schreiben. Darin wollte er ihm eine Frage stellen: „Vater, liebst du mich?“ Einige Wochen später saß Sebastian wieder bei mir und hielt den Brief seines Vaters in der Hand. In seinem Gesicht war keine Regung zu lesen. „Und? Was hat er geantwortet?“ fragte ich neugierig.

„Schau selbst!“ Mit diesen Worten drückte er mir das Schriftstück in die Hand. Da stand etwas von „natürlich liebt ein Vater seinen Sohn …“

„Zufrieden?“ fragte ich.

„Nee, das genügt mir nicht. Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Ich will das jetzt wissen.“ Sebastian klang ziemlich aufgebracht. „Wenn er mich liebt, dann soll er mir das sagen. Dann soll er das hinschreiben. Und wenn er das nicht fertigbringt, dann liebt er mich nicht. Punkt. Ich schreibe ihm, dass ein Vater natürlich seinen Sohn liebt. Aber Vater, liebst DU MICH? Das ist die Frage, auf die ich gern eine Antwort hätte!“

Endlich eine ehrliche Antwort vom Vater

Wieder vergingen einige Wochen bis zu unserem nächsten Termin. Diesmal kam ein gut gelaunter Sebastian. „Mein Vater hat mich angerufen. Das war das erste Mal überhaupt, dass er sich gemeldet hat, seit er auf Teneriffa ist. Er bedankte sich zunächst für die Briefe und dass ich nicht locker gelassen hatte mit meiner Frage. Dann erzählte er, dass er bedauert, bei seinem eigenen Vater nicht auch so hartnäckig gewesen zu sein. So starb sein Vater, ohne dass er jemals aus seinem Mund irgendein Wort der Liebe gehört hatte, obwohl er eigentlich schon glaubt, dass sein Vater ihn liebte. Er entschuldigte sich dafür, dass er all die Jahre keine einzige Liebesbekundung über seine Lippen gebracht hatte. Er versicherte mir, dass er lange und intensiv darüber nachgedacht hatte und selbst erstaunt war, dass er sich nicht an ein einziges Mal erinnern konnte. Dann sagte er: ‚Sebastian, mein Sohn, ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe.‘ Und völlig unversehens sprudelte es aus meinem Mund: ‚Ich liebe dich auch, Papa‘. Es war schier so, als hätten diese Worte schon Jahrzehnte lang am Tor meiner Lippen gewartet, nur um eine Gelegenheit zu erhaschen, wo sie meinem Mund entfliehen konnten. Es ist, als wäre ich das erste Mal in meinem Leben ein ganzer Mann. Jetzt, wo ich es persönlich aus dem Mund meines Vaters gehört habe, glaube ich es.“

Woher wissen Sie, dass Ihr Vater Sie geliebt hat? Hat er es Ihnen sagen können? Welche Worte hätten Sie gerne von Ihrem Vater gehört? Eine ehrliche Antwort auf diese Frage könnte der erste Schritt sein, sich einem unbewältigten und leidvollen Thema zu stellen. Wenn Sie dabei Begleitung brauchen, dann suchen Sie sich jemanden. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“ – das ist die Idee Gottes.

Es lohnt sich, seinen Schmerz loszuwerden und die emotionalen Ketten abzustreifen, um ein ganzer Mann werden zu können. Trauen Sie sich ruhig!

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