Echte Gemeinschaft?

Gemeinschaft
© Papaioannou Kostas / unsplash.com

Echte Gemeinschaft?

Echte Gemeinschaft scheinen viele Männer nur im Job, an der Theke oder auf dem Sportplatz zu erleben. Hier umarmen sie einander, jubeln zusammen oder sind gemeinsam frustriert über die erzielten Ergebnisse. Darüber hinaus treffen sich Männer zum Diskutieren über Autos, Politik oder die Arbeit. All dies sind Dinge, die uns als Männern wichtig sind und über die wir uns vielfach identifizieren. 

Aber ist dies wirklich Gemeinschaft, oder handelt es sich hier nicht eher um Bereiche, mit denen wir uns schützend umgeben, um nicht unsere eigene Verletzlichkeit oder Verletztheit offenbaren zu müssen? Man(n) ist stark und zeigt keine Schwächen. In diesem Sinne verstanden bleiben wir lieber mit unseren Gefühlen im Hintergrund und präsentieren stattdessen die strahlend herausgeputzte Fassade unserer Erfolge und Positionen. Obwohl unsere Haut oft dünn, die Misserfolge vorprogrammiert und die Entschuldigungen mannigfaltig sind, erzählen wir einander unsere Erfolgsgeschichten und machen uns so füreinander vielfach unnahbar. 

Und wie steht es mit uns christlichen Männern? Sind wir da wirklich anders? Freilich haben wir andere Themenkreise, auch mögen wir es gelernt haben, feinfühliger miteinander umzugehen. Aber worüber sprechen wir als fromme Männer vorwiegend miteinander? Geht es nicht um Sachfragen, Theorien, Pläne und Konzepte, über die wir voll Hingabe und Emotionalität miteinander diskutieren? Ernste und wichtige Themen sind dabei, solche, die mit unserer Glaubensgemeinschaft oder unserem Bibelwissen zu tun haben. Allerdings: auch hier verbirgt sich die eigene Person oftmals hinter hohen Mauern geistlicher Richtigkeiten oder wichtiger Gemeindeprojekte – und kaum einer weiß, wie es dem Einzelnen tatsächlich geht.

Leben teilen

Die Bibel selbst legt dabei großes Gewicht auf einen voreinander offenen Lebensstil. Mit Blick auf Jesus und seine Jünger – dem Urtyp einer echten Gemeinschaft von Männern – wird dies deutlich. Für Jesus standen nicht Sachdiskussionen, gemeinsame Planungsaktivitäten oder reine Wissensvermittlung im Mittelpunkt, sondern er teilte sein Leben mit den Jüngern: Er selbst wurde zum Anschauungsmaterial für diese und lebte ihnen in allen Lebensbezügen konkret vor, was es heißt, im Neuen Bund seinen Alltag zu gestalten.

Die Jünger wiederum wuchsen geistlich, weil sie einander nah waren und zugleich dieses konkrete Vorbild vor Augen hatten. Durch diesen Umgang miteinander entstand ein geschützter Raum, in dem sie sich aneinander reiben konnten, Fehler machen durften, Erfolge feierten, sich aber auch offen mit eigenen Misserfolgen auseinandersetzten. Im hohepriesterlichen Gebet fasst Jesus die Bedeutung dessen noch einmal zusammen, indem er betet: „Vater, ich bitte dich, dass sie eins werden, so wie wir eins sind.“ (Joh 17,21) Dabei redete er ganz offensichtlich nicht von frommer Gleichmacherei oder Uniformität, sondern bat um eine Einheit, die von außen wahrgenommen werden kann und die von gegenseitiger Wertschätzung trotz Unterschiedlichkeit geprägt ist. – Mündet nicht die gesamte Botschaft des Neuen Testaments in eben dieses Gebet Jesu?

Gemeinschaft leben

Was aber bedeutet dies für uns im 21. Jahrhundert? Kann es sein, dass wir vor lauter christlichen Programmen und Angeboten hier etwas Wesentliches vernachlässigt haben? Oder noch direkter gefragt: Wo haben Sie persönlich regelmäßige, echte Gemeinschaft mit anderen Männern? Dabei geht es mir nicht um die frommen Arbeits- und Dienstgemeinschaften, an denen Sie beteiligt sind, sondern um geistliche Bruderschaften, in denen Offenheit, Vertrauen und Ehrlichkeit voreinander eingeübt werden und wachsen. Ein Miteinander mit Augenmaß ist gefragt: eine neue Balance gilt es hier ganz persönlich zu ergründen. Zum einen dürfen wir unsere eigene Individualität, aber auch unsere tatsächlichen Bedürfnisse besser kennenlernen, ohne dabei länger in den Pseudo-Individualismus unserer Gesellschaft gepresst werden zu müssen. Zum anderen liefern solche Bruderschaften die Basis, um ein ganz neues Maß an Offenheit voreinander zu entwickeln und in einer Zeit wachsender Isolation durch diese Nähe zu anderen Männern Zeichen zu setzen.

Bruderschaften

Wie aber können derartige Gemeinschaften Wirklichkeit werden? Gerade weil wir als Männer besonders gut durch Vorbilder lernen, sind solche Bruderschaften – selbst wenn diese zunächst als Zweierschaften beginnen – von großer Bedeutung. Da es hierbei allerdings um eine Form des Miteinanders geht und nicht um ein weiteres frommes Programm, ist es wichtig, die Nebeneffekte der eigenen (männlichen) Seele rechtzeitig zu berücksichtigen: Statt darüber nachzusinnen, mit welcher Methode oder Strategie man die Teilnehmerzahl einer solchen Gruppe steigern oder wie man die nächsten Monate inhaltlich gestalten könnte, geht es primär um den Aufbau von echten Beziehungen und Austausch – und so etwas ist nicht wirklich planbar.

Da, wo Sie die persönliche Sehnsucht haben, sich auf einen derartigen Weg zu begeben und Sie ein oder mehrere andere Männer finden, die sich ebenfalls auf diese Art von „Weggemeinschaft“ einlassen wollen, genau dort haben Sie den ersten Schritt vollzogen und damit begonnen, sich auf dieses Geheimnis einzulassen. Dabei ist diese Art von Gemeinschaft keineswegs als „Ersatzgemeinde“ zu verstehen. Auch ist es nicht ihr Ziel, dem Einzelnen eine geistliche Rundum-Versorgung zu bieten oder eine neue fromme Elitegruppe zu züchten. Es geht vielmehr darum, dass durch diesen gemeinsamen Prozess Männer voneinander lernen, hierdurch geistlich wachsen und ihre eigenen Berufungen finden können. 

An verschiedenen Orten Deutschlands erlebe ich, wie solche Gemeinschaften entstehen: Es sind meist kleine Gruppen, die auf den ersten Blick fast unspektakulär erscheinen, jedoch bei näherer Betrachtung eine stark formende und anziehende Wirkung für die beteiligten Männer aufweisen. 

Einheit trotz Unterschiedlichkeit

Um es an einem Beispiel konkret zu machen: Wir, das sind durchschnittlich zehn Männer aus einer Region Südhessens, haben uns miteinander auf einen solchen Prozess eingelassen und sind seit ca. zwei Jahren miteinander auf dem Weg. Wir stammen aus unterschiedlichen christlichen Glaubensgemeinschaften, stehen in verschiedenen Phasen unserer geistlichen Entwicklung und decken ein Altersspektrum zwischen Mitte 30 und Mitte 70 Jahren ab.

Was uns verbindet, ist nicht das gemeinsame Gesangbuch oder ähnliche theologische Ausrichtungen, sondern die persönliche Beziehung zu Jesus und der Wunsch, geistlich zu wachsen. Auf genau dieser Basis treffen wir uns: Da wir so unterschiedlich sind, stehen für uns die Gemeinsamkeiten im Mittelpunkt. So geht es nicht um unsere Herkunftsgemeinschaften, deren Stärken oder Schwächen bzw. unterschiedliche Lehrmeinungen, sondern wir sprechen vom Reich Gottes und dem, was uns hierbei ganz persönlich betrifft. Dabei tauschen wir nicht unser religiöses Wissen aus, sondern reden von unseren ganz praktischen Erfahrungen mit Gott. Nicht diejenigen Dinge stehen dabei im Mittelpunkt, die schon längst verjährt sind, sondern solche Aspekte interessieren, die jetzt Relevanz haben bzw. aktuell stattfinden.

Es geht darum, was Nachfolge konkret in unseren jeweiligen Alltagssituationen bedeutet. Indem wir einander zuhören, nachfragen oder erzählen, ist zum einen ein stetig wachsender wertschätzender Respekt voreinander entstanden, zum anderen wächst aber auch Einheit. In unseren Gesprächen kommen Tagesprobleme auf den Tisch, für die wir gemeinsam beten oder auch einander weiterhelfen. Wir haben gelernt, ganz offen davon zu sprechen, wie wir mit Glaubensfrust, unerfüllten Erwartungen und nicht erhörten Gebeten umgehen oder auf welche Weise der Einzelne mit Gott kommuniziert. 

Fragen und zuhören

Zur Offenheit gehört Vertrauen: Da unsere Gespräche sehr persönlich sind, weiß jeder, dass nichts, was hier gesprochen wurde, den Raum verlässt oder so verwendet wird, dass es einem Teilnehmer schadet. Ebenso lernen wir, mehr und mehr die Anderen zu fragen: Statt diese mit unseren Einsichten zu belehren oder über Texte zu diskutieren, sind es gerade die Fragen, die Nachdenken auslösen oder Einzelne anrühren. Wir sehen uns bei all dem nicht als Ersatz für Bibelstunden oder Gottesdienste, sondern wir möchten einander besser kennenlernen und so erfahren, wie der Einzelne seinen Glaubensweg im Alltag ganz praktisch gestaltet. Indem wir einander zuhören, lernen wir für das eigene Leben voneinander, erfahren, wer der Andere wirklich ist und geben in diesem geschützten Raum Dinge preis, die im gemeinsamen Gebet an Jesus abgegeben werden können.

Was wie ein freiwilliges Demolieren der eigenen männlichen Fassaden aussieht, wird zum Ausstieg aus dem Gefängnis des eigenen Egos. Und so ist immer wieder der Himmel für den Einen oder Anderen offen und Man(n) wächst mit anderen zusammen, steht füreinander ein und fängt an, gemeinsam zu erleben, wovon Jesus im hohepriesterlichen Gebet sprach. Indem wir miteinander ganz praktisch lernen, wie z. B. Vertrauen innerhalb einer Gemeinschaft wächst, erfahren wir immer mehr über den tatsächlichen Unterschied zwischen Einheit und Gleichmacherei, erleben, was es heißt, gemeinsam stark zu sein, aber erkennen auch, dass es eben nicht gleiche T-Shirts, identische Bibelauslegungen oder andere gemeinsame Sichten sind, die uns in erster Linie in diesem Prozess voranbringen. Vielmehr ist es Jesus, der uns in unserer Unterschiedlichkeit formt und uns als lebendige Steine zu einem sich gegenseitig tragenden und stützenden Ganzen zusammenfügt.

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Stefan Rotter
Stefan Rotter
2 Jahre zuvor

Nach über 40 Jahren als Christ entdecke ich jetzt wieder die Zweier-Bruderschaft, die natürlich auch zu einer Freundschaft werden kann. Größere Gruppierungen und „Männertreffs“ sind idR nett, geistlich vielleicht auch Impulse gebend aber eher oberflächlich, es dauert lange sich zu öffnen, auch christliche Männer haben so ihren Stolz und wollen sich nicht mit jedem offenbaren, schon gar nicht wenn ein Pastor oder sonst ein Profi mit dabei ist.