Der versteckte Jesus

Jesus
© Maxim Kotov / unsplash.com

Der versteckte Jesus

„Was für ein außergewöhnlicher Beruf!“ Diesen Satz bekomme ich als Restaurator immer wieder zu hören, auch wenn der Beruf oft nicht so spannend ist, wie es sich anhört. Stundenlanges Sitzen über einem Objekt, Staub und Dämpfe in den Arbeitsräumen, giftige Chemikalien – das alles gehört zu meinem Alltag. Doch der letzte Auftrag, den ich bekam, war ganz anders als alle vorherigen Arbeiten, denn dabei habe ich nicht nur Malereien freigelegt, sondern etwas noch Wertvolleres. Aber eins nach dem anderen … 

Jesus-Malereien

Alles fing mit dem Anruf eines Pfarrers aus Sachsen an, der mich unbedingt für ein besonderes Projekt engagieren wollte. Ganz aufgeregt schilderte er am Telefon, dass er alte Berichte aus dem Jahr 1751 über eine Dorfkirche in seinem Bezirk entdeckt habe, in denen von drei Jesus-Bildern die Rede sei. Diese Bilder haben wohl nicht in die damalige Zeit gepasst und so viel Anstoß erregt, dass die Kirchenleitung gezwungen war, sie übermalen zu lassen.

Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Im Laufe meiner Karriere hatte ich schon viele Jesus-Malereien restauriert. Alle schienen mir den Jesus darzustellen, der ungefähr 1,75 m groß und schlank ist, braune lange Haare, weiße Kleidung, bleiche Haut und ein Schaf im Arm hat. Das ist nichts, was mich vom Hocker reißt, und ich verstehe auch nicht, was andere so anziehend an dieser historischen Persönlichkeit finden. Aber da ich ein neugieriger Mensch bin und die Auftragslage ohnehin recht dürftig war, sagte ich zu. Noch am selben Abend suchte ich mein Material zusammen und machte mich am nächsten Morgen auf den Weg.

Einige Stunden später öffnete der Pfarrer mit einem riesigen Schlüssel die schwere Holztür einer kleinen Kirche. Muffiger Geruch schlug uns entgegen. Meine Augen mussten sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Wir setzten uns auf die Holzbänke, die genauso knarrten, wie ich das aus alten Kirchen kannte. Hinter dem Altar befanden sich die Malereien, die verschiedene Szenen aus dem Leben von Jesus zeigten. Nichts Besonderes – wie erwartet.

Darunter sollten also die ursprünglichen Bilder liegen. Erwartungsvoll sah mich der Pfarrer an. „Wie lange wird es dauern, bis Sie die Malereien freigelegt haben?“ „Nun ja, das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: von den Bestandteilen der Farbe, des Untergrundes und auch vom Raumklima. Nach den ersten Analysen kann ich Ihnen mehr sagen, aber das wird einige Tage in Anspruch nehmen.“

Also machte ich mich an die Voruntersuchungen. „Vielleicht bin ich hier ja einer ganz großen Sache auf der Spur“, sagte ich mir in den folgenden Tagen immer wieder, um bei Laune zu bleiben, während ich erste Proben von Farbpartikeln vom Untergrund entnahm und die üblichen Analysen durchführte. Erste Freilegungsversuche mit verschiedenen Abbeizpasten scheiterten, weil der über der ursprünglichen Malerei liegende Anstrich ungleichmäßig angebracht worden war. Viele Stunden später konnte ich jedoch mit einer Kombination aus zwei Abbeizpasten bessere Ergebnisse am Rand der Malerei erzielen.

Ein lachender Jesus

Nach diesem ersten Erfolg holte ich den Pfarrer in die Kirche. Er sollte unbedingt dabei sein, wenn ich damit begann, das erste Bild freizulegen. Um die Malschicht zu schonen, entschloss ich mich, kein Dampfstrahlgerät, sondern Wasser und eine Bürste zu benutzen. Unter dem Bild des leicht verklärt blickenden Jesus, der in den Himmel auffährt, kam nach und nach eine ganz andere Szenerie zum Vorschein. 

„Jesus lacht ja!“, rief der Pfarrer, und ich war genauso überrascht wie er. Ein herzhaft lachender Jesus. Das war wirklich untypisch. So hatte ich Jesus noch nie gesehen. Nachdem ich weitere Teile des Bildes freigelegt hatte, erklärte mir der Pfarrer aufgeregt: „Das könnte eine Darstellung der Hochzeit zu Kana sein. Jesus und seine Jünger waren dazu eingeladen; dort hat er Wasser in Wein verwandelt.“ 

Muskulös und braungebrannt

Es dauerte noch einen Tag, bis ich das erste Bild komplett freigelegt hatte. Es war ungewöhnlich gut erhalten. Mir fiel auf, dass Jesus im Gegensatz zu den Bildern, die ich bisher gesehen hatte, mit braunem Teint und sehr muskulös dargestellt wurde. Der Pfarrer war begeistert, als ich ihn darauf ansprach. „Wissen Sie, Jesus war Zimmermann, er hat Holz bearbeitet und transportiert. Dieser Körperbau ist bei derartiger Arbeit doch normal, oder? Und kennen Sie einen Südländer, der viel im Freien und nicht braungebrannt ist?“ Das leuchtete mir ein. 

Als wir staunend vor dem ersten freigelegten Bild standen, schossen mir viele Fragen durch den Kopf: „Sollte Jesus doch viel mehr Mensch gewesen sein, als ich mir das vorgestellt habe? Wieso soll er nicht auch gelacht haben? Was mache ich mit meinem bisherigen Bild vom melancholisch dreinblickenden Jesus?“

Nahbar 

In den nächsten Tagen machte ich mich an die Freilegung des nächsten Bildes, das Jesus bei der Heilung eines Kranken mitten in einer Menschenmenge zeigte. Mir fiel auf, dass das übermalte Bild wesentlich bunter war als das darüber liegende. Der frühere Maler hatte wesentlich intensivere und hellere Farben gewählt als sein Nachfolger einige Jahrhunderte später, bei dessen Werk hauptsächlich Braun- und Schwarztöne dominierten. „Interessant. Vielleicht ist Jesus bunter, als ich mir das bisher ausgemalt habe!“

Erstaunlicherweise stellte sich im Laufe der weiteren Arbeiten heraus, dass auf dem unteren Bild die gleiche Szene dargestellt war wie auf dem darüber liegenden. Aber Jesus heilte nicht mit ausgestreckter Hand, sondern hielt den Kranken im Arm und strich ihm mit der Hand über die Haare. Er schien sich zu freuen. Auch die Menschen um ihn herum zeigten viel mehr Freude und Emotionen als auf dem vorigen Gemälde. Einige jubelten und streckten die Arme in die Höhe, andere staunten mit offenen Mündern. Jetzt war ich völlig baff: Ein Jesus, der Nähe zeigte, der hautnah am Schicksal der Menschen teilnahm.

Den echten Jesus entdecken 

Im Laufe der Tage wurde es für mich zur Gewohnheit, dass ich abends noch lange vor den freigelegten Malereien saß und sie eingehend betrachtete. An einem dieser Abende kam der Pfarrer dazu. Schweigend saßen wir nebeneinander da. Er musste bemerkt haben, dass diese Bilder mich mehr berührten, als ich zugeben wollte. Nach einer Weile sagte er: „Nehmen Sie doch mal Ihre Kulturbrille ab, dann können Sie Jesus noch genauer sehen.“ Verdutzt nahm ich meine Brille ab, aber alles wurde nur noch unschärfer. „Nein, nein“, sagte er lachend. „Ich meine die Kulturbrille.“ Ich sah ihn fragend an.

„Jede Generation schafft sich ihren Jesus“, erklärte er. „Im 19. Jahrhundert war er der große Weisheitslehrer, im 20. Jahrhundert mal Revolutionär, mal Hippie. Man kann ihn einfach in kein Schema pressen. Er lässt sich nicht vereinnahmen. Er klettert aus jeder Schublade, in die wir ihn stecken, und jede Kultur hat ihre eigene Sicht von Jesus. Aber es geht darum, den echten Jesus in der Bibel zu entdecken.“ Ich stimmte ihm zu. „Das, was ich in den letzten Tagen durch diese Malereien von Jesus gesehen habe, hat mein Bild von ihm ganz schön auf den Kopf gestellt. Er ist greifbarer, menschlicher und göttlicher zugleich für mich geworden. Verstehen Sie, was ich meine?“, fragte ich unsicher. Er nickte. 

Wenn der Zeigefinger plötzlich verschwindet

Bei den Vorarbeiten zur Freilegung des dritten Bildes über dem Altar musste ich über die Worte des Pfarrers nachdenken. Es zeigte Jesus, wie er ernst und mit mahnendem Zeigefinger vor einer Menschenmenge eine Predigt hielt. Mir wurde bewusst, dass ich viele Vorstellungen über Jesus von anderen übernommen hatte, ohne selbst darüber nachzudenken. Und ich war sehr gespannt, welcher Jesus sich dieses Mal unter dem Bild verstecken würde. Als ich mit der Abbeizpaste über den Zeigefinger von Jesus strich, musste ich an die unzähligen Verbote denken, die ich in vielen Kirchen schon gehört hatte. Aber die Frage war, ob Jesus auch in dieser Hinsicht anders sein würde, als ich es immer gedacht hatte … 

Am nächsten Tag leistete der Pfarrer mir wieder Gesellschaft. Zum dritten Mal begann ich, mit Wasser und Bürste die Übermalung abzutragen. Der ausgestreckte Zeigefinger verschwand, und im Laufe der folgenden Stunden wurde ein Jesus sichtbar, der einer Frau gegenüber auf dem Boden saß. Die Menschenmenge blieb, aber statt der Predigt war eine andere Geschichte dargestellt, wie mir der Pfarrer erklärte.

„Hier schleppen sie eine Ehebrecherin zu Jesus, die auf frischer Tat ertappt wurde. Sie wollen ihn auf die Probe stellen. Auf so eine Tat stand nach dem jüdischen Gesetz der Tod durch Steinigung. Sehen Sie die Steine in den Händen der Menge?“ „Und was hat Jesus gemacht?“, wollte ich wissen. „Er sagte zu den Menschen, dass jeder, der keine Sünde begangen hat, einen Stein auf die Frau werfen dürfe. Da sind alle unverrichteter Dinge abgezogen. Ist das nicht genial? Und der Frau hat er ihre Schuld vergeben. Jesus ist so erfrischend unkonventionell. Er liebt die Menschen und schenkt ihnen Hoffnung und einen neuen Anfang, statt Regeln aufzustellen. Haben wir das nicht alle bitter nötig?“

Ich blickte den Pfarrer an, und mir war fast so, als ob nicht ich diese Malereien freilegte, sondern Jesus die Übermalungen in meinem Herzen. Noch einige Wochen zuvor hätte ich nicht geglaubt, dass sich der echte Jesus hinter einigen Malereien verstecken und dass dies irgendeine Auswirkung auf mein Leben haben könnte. Ich kann nur alte Kunstwerke restaurieren. Aber Jesus kann noch viel mehr. Er erneuert Menschen von Grund auf, und genau damit hat er gerade bei mir begonnen …

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Ben
Ben
2 Jahre zuvor

subba 🙂