Der Domino-Effekt: Gewalt erzeugt Gewalt

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Der Domino-Effekt: Gewalt erzeugt Gewalt

Adam online: Körperliche, aber auch seelische Gewalt, sind in der Regel das Ende einer Gewaltspirale, die schon viel früher angefangen hat. Wie wird jemand zum Gewalttäter?

Michael Stahl: Nach meinen Erkenntnissen liegt der Ursprung von Gewalt immer im Elternhaus. Dort ist im Idealfall die Basis von Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung, Identität und Wertschätzung. Wer weiß, dass er wertvoll ist, gibt dieses Wertvolle weiter. Die zentrale Figur dabei ist der Vater. Bei Jungs, die verzweifelt Anerkennung und Wertschätzung suchen, steckt oft eine kaputte Vaterbeziehung dahinter. Leider kommt es hier oft zu einem Domino-Effekt: Gewalttätige Väter erzeugen gewalttätige Söhne, die wiederum zu gewalttätigen Vätern werden. Wenn ich im Gespräch mit den Eltern die Begründung höre: „Mein Vater hat mich auch geschlagen, und mir hat es nicht geschadet.“, antworte ich ihnen: „Es hat Ihnen so sehr geschadet, dass Sie jetzt Ihre eigenen Kinder schlagen.“

Ein anderer Punkt ist, dass viele Väter keine Zeit haben. Wer formt aber unsere Kinder, wenn wir keine Zeit für sie haben? Viele Eltern können keine Grenzen mehr setzen, weil sie denken, dass sie es ihren Kindern immer recht machen müssen, aber Grenzen beschützen unser Leben vor Gefahren. Ich habe schon viele Gespräche mit Eltern geführt, deren Kinder neun bis elf Jahre alt sind und ein hohes Aggressionspotenzial haben. Das ist erst einmal gut, und die Kinder sollen ihre Aggressionen ruhig ausdrücken dürfen, aber gezielt und innerhalb bestimmter Grenzen. Wenn diese Möglichkeit nicht da ist, sage ich immer wieder zu den Eltern: „Schaut mal, jetzt ist euer Kind zehn oder elf Jahre alt, es kommt bald in die Pubertät, und dann werdet ihr Chaos haben.“ Bei solchen Gesprächen kommt ganz oft heraus, dass die Väter nicht da sind.
Es liegt also meistens an den Eltern, dass die Kinder gewalttätig werden. Ich will niemanden verurteilen, aber ich möchte alle Eltern darum bitten, etwas stärker darauf zu achten, dass sie mehr Zeit für ihre Kinder haben und dass sie lernen, Grenzen zu setzen.

Wie beurteilen Sie die Forderung nach mehr Ganztagesbetreuung von Kindern? Viele sagen ja, dass Kinder in pädagogischen Einrichtungen wesentlich besser betreut würden als zu Hause.

Für mich gehört ein Kind zunächst einmal zu Vater und Mutter. Das ist die Basis von allem. Es ist traurig, wenn man sich die Frage stellen muss, ob es ein Kind zu Hause gut hat und ob es woanders besser aufgehoben ist, zum Beispiel in einem Kinderheim. Das ist nur eine Ausweichvariante. Es kann doch nicht die Lösung sein, dass wir unsere Kinder abschieben. Muss denn wirklich jeder berufstätig sein? Neulich habe ich mit der Mutter eines kleinen Kindes gesprochen und sie gefragt, ob sie berufstätig ist. Sie meinte, dass sie sich fast dafür schämen würde, zu Hause bei ihren Kindern zu sein, denn sie fühlt sich von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Dabei ist das eine super verantwortungsvolle Aufgabe, eine Lebensaufgabe, Mutter zu sein. In den ersten Lebensjahren braucht das Kind diese zwei Bezugspersonen. Ein Kind wird von Mutter und Vater geformt, aber die Gesellschaft meint, sie müsste da einen anderen Weg gehen. Die Frage ist nur, wohin dieser Weg führt. Die Tatsache, dass unsere Kinder- und Jugendpsychiatrien bis auf Monate restlos ausgebucht sind, spricht für sich – auch die hohe Selbstmordrate von Kindern und Jugendlichen.

Wie ist es, wenn jemand schon zum Opfer von Gewalt geworden ist? Gerade Jungen und Männer erleben oft körperliche oder seelische Gewalt, nachweislich sogar viel öfter als Frauen. Und ehemalige Opfer werden oft zu Tätern. Wie kann man das verhindern?

Das hört sich provokant an, aber sie werden immer zu Gewalttätern, denn sie werden zumindest sich selbst Gewalt antun. Sie nehmen gewaltsam Einfluss auf das Leben, das zur Freude gedacht ist. Sie verschanzen sich oft hinter dem Computer, sitzen dort stundenlang und nehmen nicht am Leben teil. Das ist auch eine Form der Verletzung der eigenen Persönlichkeit.
Menschen, die gewalttätig sind, sind schwach und verletzt. Sie tun sich meistens mit anderen zusammen. Diese Negativspirale kann nur durchbrochen werden, wenn wir wieder geistliche Väter und Mütter haben. Das kann zum Beispiel ein Lehrer oder eine Lehrerin sein oder ein Pastor oder ein Fußballtrainer. In meiner Kindheit gab es einen Fußballtrainer, der mir unfassbar viel bedeutet hat. Er hat mich geformt, er hat mir Grenzen gesetzt, wurde auch mal laut, aber er hat mich auch mal in den Arm genommen, wenn ich traurig war. Das ist ja heute verboten, aber jeder Mensch braucht Nähe, Geborgenheit, Anerkennung, und jeder Mensch braucht es, dass man ihn mal in den Arm nimmt. Es leben zwar in Deutschland über 80 Millionen Menschen auf einem Fleck, und doch sind die meisten allein. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdient habe, denn dann habe ich es am nötigsten.“ Wenn dieser Satz in unserer Gesellschaft greifen würde, wenn wir nicht unbedingt die Tat sehen, sondern den Menschen dahinter wahrnehmen würden, könnte sich etwas ändern, und dieser Domino-Effekt würde unterbrochen. Viele Menschen müssen leiden, weil ihnen Nähe, Geborgenheit, Aufmerksamkeit fehlt. Wenn Vater und Mutter nicht mehr da sind für die Kinder, muss jemand anderes diese Stelle mit Liebe übernehmen.

Wenn ich merke, hier ist ein Kind, dem zu Hause wirklich übel mitgespielt wird, dann kann ich als Außenstehender zwar keinen Einfluss nehmen auf den Erziehungsstil der Eltern, aber ich kann mich in gewisser Weise um das Kind kümmern und eine Art „Ersatzvater“ oder Pate für das Kind sein.

Dabei darf man nicht vergessen, dass viele Jungs nicht reden. Wenn sie in der Schule gequält werden, gehen sie nicht nach Hause und erzählen, dass sie fertig gemacht werden. Der Sohn redet nicht, er schweigt, er wird still. Die ganzen Amokläufer sind Leute, die still geworden sind.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum viele Kinder schweigen?

Viele Kinder haben diesen Traum vom Helden, der nicht jammert und nicht über seine Schwächen redet. So wollen sie auch sein. Wenn ich manchmal in Schulen bin und der Lehrer mir von den Kindern erzählt, mache ich ihn immer auf die stillen aufmerksam, weil sich da etwas zusammenbrauen kann. Solange einer tobt und um sich schlägt und sich wehrt, kommt noch etwas heraus, aber wenn einer still wird und alles in sich hineinfrisst, dann gärt etwas in ihm, und man weiß nicht, was in ihm abläuft. Da muss man aufpassen. Es ist ganz wichtig, dass Menschen reden und auf eine gesunde Art und Weise das herauslassen, was in ihnen ist.

Für Außenstehende wäre dann also die Herausforderung: Wenn sie merken, dass ein Kind außergewöhnlich still ist und sich in sich selbst versteckt, diesem Kind auf eine gute Weise nachzugehen und zu versuchen, das Kind aus seiner Zurückgezogenheit herauszuholen?

Der eine ist etwas lauter, der andere etwas ruhiger. Aber wenn man eine Veränderung feststellt, z. B. dass das Kind jetzt viel weniger lacht und redet als früher, dann ist das meistens ein Hinweis auf Schwierigkeiten. Manche Kinder erleben in den Schulen unfassbare Gewalt von Mitschülern, erzählen das aber oft nicht, weil sie sich schämen. Außerdem wollen sie ihre Eltern nicht damit belasten. Wenn sie wissen, dass es Mutter oder Vater nicht gut geht, kommen sie nicht mit ihren Sorgen auf sie zu. Sie schützen ihre Eltern aus Liebe.

Liebe ist der Schlüssel zu allem. Wenn sie fehlt, dann haben die Menschen eine unfassbare Sehnsucht, und sie werden alles dafür tun, um Anerkennung und Liebe zu erfahren. Wenn sie diese bekommen, wird das Leben gut, dann können sie auch selbst Liebe und viel Gutes an andere weitergeben.

Homepage von Michael Stahl:
www.security-stahl.de

Modern Selfdefence Education:
www.team-mse-eging-am-see.de

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