Bauchgefühl ersetzen durch Digitalisierung?

Bauchgefühl
© Edz Norton / unsplash.com

Bauchgefühl ersetzen durch Digitalisierung?

Du hast das sicher schon mal erlebt: Du hast dieses Gefühl, etwas mitnehmen oder tun zu müssen, ignorierst es und stellst nachher fest, dass es gut gewesen wäre, auf das Gefühl zu hören. Oder? Kommt dir das bekannt vor? Landläufig nennen wir das „Bauchgefühl“. Jeder hat es. Bis jetzt.

Schnellere Lebenswelt

Es könnte nämlich sein, dass wir die letzte Generation sind, die sich darauf verlassen kann. Denn mit der zunehmenden Digitalisierung wächst auch unsere Abhängigkeit von digitalen Bewertungssystemen. Die Logik dahinter ist einfach: Durch die zunehmend schnellere Kommunikation wird auch unsere Lebenswelt schneller. Das Leben fühlt sich „voll“ an. Aber nicht voller Glück, sondern vollgestopft.

Entscheidungen treffen

Von den 20.000 Entscheidungen, die wir täglich treffen (einfach mal googlen, es sind wirklich so viele), sind ein paar auch recht wichtig. Welchen Beruf soll ich wählen? Welches Handy soll ich kaufen? Ist das Restaurant gut? Welchen Kinderwagen braucht mein Kind? Um hier gute Entscheidungen zu treffen, ziehen wir mehr und mehr digitale Bewertungssystem zu rate, die uns die Entscheidung erleichtern sollen. Wir kaufen natürlich das Produkt mit den besten Bewertungen. Das geht schnell und die anderen machen es ja auch.

Verdrängtes Bauchgefühl

„Das größere Problem jedoch ist, dass Bewertungsportale unser analoges Bauchgefühl verdrängen. Das „Bauchgefühl“ ist laut dem Psychologen Hans J. Markowitsch und der Ärztin für Psychatrie und Psychotherapie Angelica Staniloiu kein rein intuitiver oder automatisierter Vorgang, sondern eine Kombination aus angeborenen und erworbenen Faktoren, die dann zu einer Reaktion führen. […] So legen sie [nach und nach] ihr analoges Bauchgefühl ab, dass ihnen vielleicht sagen würde, das man sich zuerst selbst eine fundierte Meinung bildet, bevor man etwas einkauft, und vertrauen ganz auf das Netz. […] Um im Leben zurechtzukommen, ist die Entwicklung eines eigenen Bauchgefühls bzw. Entscheidungsempfindens nahezu unverzichtbar – und künftig müssen wir unseren Kindern verstärkt bei diesem Lernprozess helfen.“1

Analoges Leben trotz Digitalisierung

Unsere Kinder kennen nämlich keine rein analoge Welt mehr, wie wir. Für sie ist die Welt schon immer zur Hälfte analog und zur Hälfte digital. Und die fortschreitende Digitalisierung verlagert immer mehr ihrer Erfahrungen aus dem Analogen (draußen sein) ins Digitale (online sein). Damit zieht nicht nur ihr Freundeskreis, sondern auch ihr Erfahrungsschatz ins Internet um. Während für uns als Elterngeneration Computer Werkzeuge sind, mit deren Hilfe wir Aufgaben leichter oder überhaupt erledigen können, haben unsere Kinder schon kaum noch eine Wahrnehmung für die technischen Geräte, die sie bedienen. Sie denken nur Software. Sie sind „online“ und nicht „am Computer“. Und online sein wird gleichbedeutend mit „am Leben teilnehmen“ oder „sein.“

So gut sie sich auch online zurechtfinden – das Leben ist analog. Ihre Entscheidungen treffen sie im Hier und Jetzt und die Auswirkungen, die ihr Leben wirklich besser oder schlechter machen, manifestieren sich in der physischen Welt und nicht in der Cloud. Wie aber sollen sie in der analogen Welt gute Entscheidungen treffen, wenn ihr Erfahrungsschatz zum großen Teil auf der digitalen Welt beruht? Hier brauchen unsere Kinder uns als Eltern dringend. Einmal, um ihnen analoge Erfahrungen zu „schenken“. Und auch, um ihnen mit unserem „Bauchgefühl“ zur Seite zu stehen. Innerhalb der eigenen Familie eine gemeinsame Sprache für Gefühle und gemeinsame Werte für die Entscheidungsfindung zu entwickeln, ist dabei von unschätzbarem Wert.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments