Auf dem Weg zum heiligen Narr

Wandern
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Auf dem Weg zum heiligen Narr

„Wohin führt mich meine Reise?“, „Wohin gehst du, du Narr?“ Diese Fragen beschäftigen mich schon, seitdem ich denken kann. Die Antworten erfahre ich letztlich nur im Gehen selbst. Auf diesem Weg gibt es viele Begleiter; einer von ihnen ist der Franziskanerpater Richard Rohr. Auf dem Weg zum „heiligen Narr“ ist er mir vorausgegangen. Ihm durfte ich im Sommer 1999 in der Toskana eine Woche lang mit mehreren deutschsprachigen Männern begegnen …

Junger Narr

Das ganze Leben stellt uns Männer vor Entscheidungen. In den ersten Lebensjahren handeln wir normalerweise aus dem Bauch heraus, scheinbar wie ein „junger Narr“, und vieles wird über uns entschieden. In jungen Jahren ist der Aufstieg des Mannes von zentraler Bedeutung. Die Welt steht einem ichverliebten Mann noch offen: Es gilt so viele Länder zu bereisen; es gibt eine Vielzahl von Frauen, die erobert werden wollen; berufliche Tore sind weit geöffnet und warten darauf, vom großen Helden durchschritten zu werden. Der puer aeternus, der ewige Knabe, wähnt sich in vollkommenem Glück. Alles dreht sich um ihn, und der Schmerz des Lebens ist ihm fremd, bzw. er lernt noch nichts von ihm. Er überschätzt sich, macht riskante Dinge, sucht Mutproben unter Gleichaltrigen, waghalsige Abenteuer, muss sich beweisen, geht in die Irre. 

Doch das Leben ist kein Spiel. Wenn der Mann an einer blutenden Wunde eines abwesenden oder unkalkulierbaren Vaters leidet, wenn er jetzt nicht von älteren Männern initiiert wird, wenn er nicht in einem heiligen, rituellen Rahmen an seine natürlichen Grenzen verwiesen wird, wenn er jetzt nicht lernt, dass sich nicht alles um ihn dreht, dass er sterblich ist, dass er Teil eines großen Ganzen ist, dass das Leben hart ist, wenn ihm jetzt nicht Männlichkeit von erfahrenen Männern verliehen wird, dann muss er es später im Leben, sozusagen im Nachhilfeunterricht, mühsam lernen. 

Nachhilfeunterricht

Im Laufe der Jahre schrumpft die „Alles-ist-mir-möglich-Weltsicht“ des puer aeternus. Vieles wiederholt sich, die Grenzen des Erreichbaren werden enger gesteckt, und der Fluss des Lebens verliert deutlich an Breite. Wenn er nicht versickern will, wenn der Mann nicht verbittern möchte, wählt er allmählich den Tiefgang und die innere Stabilität. Das ist oft kein wirklich freiwilliger Prozess. Du kommst an die Grenzen, kannst nicht mehr, weißt nicht mehr weiter, hast gesucht in fernen Ländern und Herzen, hast den Rausch bis zum Exzess gelebt. Und übrig bleibt nichts außer einer trostlosen Leere, einem gähnenden Loch mit einem schalen Nachgeschmack gestohlenen Genusses, verlorener Heimat.

Orientierungslos kam ich von einem längeren Indientrip nach Hermagor in Oberkärnten. Dort bin ich dem hiesigen Pfarrer begegnet, der mir von Jesus, der Wahrheit und dem Weg erzählte. „Es ist also doch nicht alles wahr“, dachte ich bei mir und begann, mein Leben auf Empfehlung des Pfarrers diesem Jesus zu übergeben. Selbstverständlich wollte ich jetzt Jesus ganz oder gar nicht gehören. Dieses Alles-oder-nichts-Denken ist auch typisch für den jungen Mann auf dem Weg zu seiner eigenen Identität. So führte mich mein Weg zu den Franziskanern in Salzburg. Als „Minderbruder“, als Bettelbruder ein heiliger Mann zu werden, war mein großes Ziel. Der wilde Mann in mir hat sich ganz schön was vorgenommen. 

Kraft tanken

Aus eigener Kraft vermögen wir jedoch nichts, das musste ich nun nach fast fünf Jahren im Kloster erfahren: Eine schwere Krankheit hat mich zu Boden gerafft und ich habe alles verloren: meine Gesundheit, meine Zukunft als Franziskaner, meine Gemeinschaft, meinen Studienplatz an der theologischen Fakultät. Aber ich habe auch gewonnen, viel mehr als ich es in meinen kühnsten Träumen zu ahnen wagte: meine Frau, mit der ich nun schon siebzehn Jahre verheiratet bin und dazu die Gewissheit, dass es gut ist, dass mein Lebensweg nicht immer gut verlaufen ist … 

Eigene Identität als „heiliger Narr“ finden

Langsam entwickelt der Mann so etwas wie eine eigene Identität. Das ist oft in den Jahren um die vierzig. Er weiß, wo er herkommt und wo er sich hinbewegt. Der Mann lernt zu sterben, loszulassen; er findet allmählich seine Mitte, er wird zur verlässlichen Mitte für andere, für seine Familie, für seine Kollegen, Freunde, für Jüngere. Nach neuerlichen schweren gesundheitlichen Einbrüchen in der Zeit der Geburt unserer Kinder und des Hausbaues lernte ich, mich immer mehr als Mann, als Ehemann, als Vater zu stabilisieren. Gewissermaßen kann man diese Entwicklung nachträglich auch mit „Feuertaufe“ umschreiben.

Wesentlich beeinflusst hat mich auf diesem Weg der Franziskanerpater Richard Rohr. Ich habe seine Schriften verschlungen, seine Worte nachhaltig meditiert. Sie ließen mich mehr und mehr erkennen, dass es gut ist, ein Mann zu sein und sich nicht über äußere Eigenschaften wie Erfolg, Amt, Beruf oder Status zu definieren. Ich habe langsam begriffen, dass das Leiden und das Fehlen, die Hinfälligkeit also, wichtige Bestandteile im männlichen Leben sind. Männer müssen sich dafür nicht schämen, doch sie sind dafür verantwortlich, dass sich diese Ohnmacht – in der Hingabe an den, der größer ist als wir – in Stärke verwandelt. So wird der Narr „heilig“.

Lebenslügen entlarven

Eine große Lebenslüge wurde als solche entlarvt: Nichts und niemand zu sein, nichts zu haben und niemandem eine Freude zu bereiten. Solche Sätze, die viele Männer in abgewandelter Form ins Leben mitbekommen, hemmen ihre gesunde Entwicklung. Sie belasten sie selbst, ihre Frauen, ihre Familien, ihr gesamtes Lebensumfeld. Sie wollen im wahrsten Sinne des Wortes aufgedeckt, ausgesprochen und verwandelt werden.

Eine große Bestärkung in diese Richtung war und ist für mich unsere Männerrunde, die seit dem Jahre 2006 Bestand hat und von Männern unterschiedlichen Alters besucht wird. Es ist verdammt schwer, im Alleingang der Beste sein zu müssen. In einer tragenden, ehrlichen Gemeinschaft „unter Brüdern“ ist es schon viel leichter, sich den Herausforderungen des Lebens fruchtbar zu stellen.

Älter werden als Mann

Wenn ich heute nach Hermagor zu Besuch komme, dann stelle ich mit Entsetzen fest, wie alt die Menschen dort geworden sind. Tatsächlich sind inzwischen schon bald dreißig Jahre vergangen, seitdem ich als gestrandeter Aussteiger dort gelandet war. Und wenn ich heute mit Jugendlichen über deren Elternprobleme, deren erste Beziehungen, Berufsaussichten spreche, dann frage ich mich: Wo sind all die Jahre hin? Es ist ja noch nicht so lange her, seitdem ich denselben Aufgaben gegenüberstand!

Vieles, was früher leicht fiel, geht heute nicht mehr. Vieles wird intensiver, gesetzter, ruhiger und vielleicht auch ertragreicher. Endlich, endlich wird der Mann immer mehr zu einem ersehnten Fels in der Brandung, zu einem lebenden Stück Verlass und Beständigkeit, zu einem Wegweiser in die hoffentlich gute und richtige Richtung. Viele nennen dies auch Weisheit. Man ist ein heiliger Narr geworden. Nicht mehr so viel wollen, auch nicht mehr so viel können, niemandem mehr etwas beweisen müssen, aus der eigenen Mitte heraus leben, den Lebensturm von ganz unten bestaunen – das sind Perspektiven eines Mannes, der wohl mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich hat.

Heiliger, nicht verbitterter Narr

Was aber kommt jetzt noch? Was hält das Leben für uns Männer in fernerer Zukunft außer der Rente und ein paar Urlaubsreisen, vielleicht auch mit lieben Enkelkindern, noch bereit? Für Richard Rohr ist der „heilige Narr“ der Mann, der Gegensätze gelassen miteinander zu verbinden vermag, der alles erlebt, alles losgelassen hat und gerade deshalb alles besitzt. Der zufriedene, lächelnde alte Mann vor seiner Haustüre? Warum nicht?

Der „heilige Narr“ steht im Gegensatz zum „verbitterten Narren“, dem die Wunden nicht zu heiligen Wunden wurden, dem das Leben dermaßen zugesetzt hat, dass er negativ und zynisch wurde, dass ihm die Welt zu einem Ort des Schreckens geworden ist. Auch der „alte Narr“ hat nicht viel gelernt. Er meint, ein ganzes, überlanges Leben lang so weitermachen zu können, wie die Jahrzehnte zuvor. Er wird hohl und kauft sich mit sechzig immer noch schnelle Autos, überholt aggressiv auf der Autobahn und kann es einfach nicht lassen, sich wie ein „alter Narr“ zu verhalten.

Ein „heiliger Narr“ werden? Damit schließt sich der Kreis aus jüngeren Jahren, in denen ich noch ein heiliger Minderbruder werden wollte …

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Frank Krause
4 Jahre zuvor

Ausgezeichneter Artikel! Die Beschreibung eines Werdegangs, eines Lebensprozesses. Kein „5 Punkte wie ichs mache“-Programm, sondern ehrliches Zeugnis eines „Werden-der-ich-bin“- Weges.