24 Stunden obdachlos

obdachlos
Bild von Leroy Skalstad auf Pixabay

24 Stunden obdachlos

Die Zeit ist gekommen. Der Abend bricht herein. Ich steige aus dem Auto aus. Als ich die Autotür zuschlage, wird mir bewusst, dass ich damit auch die Tür zur Sicherheit der westlichen Konsumgesellschaft schließe. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich wende mich dem Auto ab und dem Leben als Obdachloser zu. Ich versuche meinen Blick hoffnungsvoll nach vorne zu richten und Gedanken zu vermeiden, die dem hinter mir gelassenen Auto nachtrauern. Was nun?

Das Abenteuer als Obdachloser beginnt

„Ich weiß, was es heißt, sich einschränken zu müssen, und ich weiß, wie es ist, wenn alles im Überfluss zur Verfügung steht.“ (Phil 4,12a)

Diese beidseitige Erfahrung von Paulus stand mir jetzt also ebenfalls in gewisser Weise bevor: 24 Stunden obdachlos – in der Kölner Innenstadt – ohne Startkapital, ohne Essen, ohne Schlafplatz, ohne Orientierung, ohne Sicherheit, ohne schnell ereichbare, wenn überhaupt erreichbare kostenlose Toilette usw. „you got the point“. Ich muss gestehen, dass ich einen Rucksack mit einem Schlafsack besitze, eine Ukulele und die wertvolle Begleitung von zwei Gleichgesinnten, die sich dieser Herausforderung ebenfalls, ausgehend von einer Aktion des Orientierungsjahres „Herzwerk“ vom Forum Wiedenest, stellen.

Voller Freude obdachlos?

„Freut euch, was auch immer geschieht; freut euch darüber, dass ihr mit dem Herrn verbunden seid! Und noch einmal sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4)

Nach aufwendigem Durchforschen der Stadt, nach langem Suchen eines sicheren Schlafplatzes und nach Regen in der Nacht, der sowohl Rucksack, wie auch Schlafsack und Kleidung durchnässte, erhielt Philipper 4,4 erstmal die Konnotation: Leichter gesagt als getan! Ohne die oft so selbstverständliche Gewissheit, dass die Grundbedürfnisse gestillt sind, erscheint vieles ziemlich relativ. Also was nun?

Lobpreis in Regenzeiten

Macht euch um nichts Sorgen! Wendet euch vielmehr in jeder Lage mit Bitten und Flehen und voll Dankbarkeit an Gott und bringt eure Anliegen vor ihn.“ (Phil 4,6)

Fünf Uhr morgens. Alles durchnässt – nicht gerade der naheliegendste Grund, dankbar zu sein! Kein Plan, was der Tag mit sich bringen wird. Keine Ahnung, wie wir uns versorgen sollen. Keine Orientierung, wo wir anfangen werden. Was nun? Tatsächlich beschließen wir, uns unter einem Café unterzustellen und die Ukulele auszupacken. Wir lassen uns von einer kürzlich gehörten Predigt über das Thema „Lobpreis in Regenzeiten“ inspirieren, was wir durchaus, im Angesicht der Umstände, sehr wörtlich nehmen.

Überraschung am Café

Und siehe da, inmitten unserer Regen-Lobpreis-Session – man bemerke, um fünf Uhr morgens – kommt ein Passant vorbei, lauscht den Klängen und gibt uns zehn Euro. (Zehn Euro waren in diesem Moment für uns gefühlt der Jackpot des Jahrhunderts.) Halleluja! Kurze Zeit später kamen wir mit einer Obdachlosen durch diese Lobpreiszeit ins Gespräch über den Glauben. Was Gott doch Großes bewirkt, wenn man einfach nur seinen Fokus auf ihn richtet. Gott überrascht und übertrifft jede Erwartung. Wenn das Wunder dann geschehen ist, glaubt man natürlich einfacher an Philipper 4,4. Ja, Gott sorgt für einen, wenn man die Sorgen auf ihn wirft. Doch was nun? Nach geistlichen Hochs kann einen auch schnell die trostlose Realität einholen.

Voller Friede ohne Besitz?

„Dann wird der Frieden Gottes, der weit über alles Verstehen hinausreicht, über euren Gedanken wachen und euch in eurem Innersten bewahren – euch, die ihr mit Jesus Christus verbunden seid.“ (Phil 4,7)

Frieden in Stürmen. Wenn das Innere zur Ruhe kommt. Doch wie soll das gehen ohne ein Dach über dem Kopf? Obdachlose leben ohne Zuhause. Vergleichsweise sind auch wir Christen Obdachlose. Wir sind in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Unsere Heimat ist im Himmel. Neben den vielen nicht gestillten Grundbedürfnissen ist doch das Wichtigste gestillt: mit Jesus Christus verbunden zu sein. Das ist der Friede, der unser Innerstes bewahrt, auch wenn alles drumherum nicht unserem Bedürfnis entspricht. Solch eine Hoffnung, die ganz auf Jesus ausgerichtet ist, gibt Halt in Mangel und in Fülle des Lebens. Jesus, mit uns verbunden, bewirkt Freude, die von innen kommt, egal, was die Umstände einem vermitteln wollen. So langsam bestätigt sich so einiges (s. Phil 4,4).

Ein 50-Cent-Frühstück

„Trotzdem war es gut, dass ihr euch in meiner schwierigen Lage um mich gekümmert habt.“ (Phil 4,14)

Extreme Bedingungen, die einen an ein Existenzminimum heranführen, verändern. Meine Paradigmen wurde in den nächsten Stunden noch weitere Male durchgerüttelt, mein Horizont erweitert. Es war super schwer, irgendetwas umsonst zu erhalten. Es gab zwar gesonderte Frühstück- und Duschmöglichkeiten für Obdachlose, jedoch auch nicht gerade umsonst. Besonders waren die Momente, in denen mir (wer bin ich schon) von Fußgängern Geld gegeben wurde. Allein 50 Cent (= zwei bis drei Brötchen, man rechnet auf einmal in Brötchen, nicht mehr in Geld) waren der Hammer und beruhigten sehr. Man merkt auf einmal, was man nicht mehr hat und lernt, den gewohnten Überfluss wertzuschätzen. Es ist so gut, sich um jemandem in seiner schwierigen Lage zu kümmern, auszuhelfen oder nur mit 50 Cent zu unterstützen. Ich weiß, welch Freude das entfachen, welchen Unterschied es machen kann und welch kostbarer Dienst für Christus es sein kann, anderen zu geben.

Zurück in den Überfluss

Ist es nicht unfassbar, dass Gott uns so reich beschenkt, damit wir aus unserem Überfluss geben können? So reich sind wir gesegnet! Was für ein unverdientes Privileg!

Wir beendeten die Aktion in dem Wissen, dass wir nur einen kleinen Einblick in das Leben eines Obdachlosen erhalten haben, indem die Gruppe (bestehend aus ca. 27 Personen) von „Herzwerk“ selbst eine Essensausgabe für Obdachlose gestalteten und das Ganze mit Lobpreis untermauerten. Was nun?

„[…] ich habe gelernt, in jeder Lebenslage zufrieden zu sein.“ (Phil 4,11b)

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Holger Siegfried Seitz
Holger Siegfried Seitz
3 Jahre zuvor

Lieber Samuel,

als ich Deinen Artikel las, kamen mir ganz viele Gedanken. Gute und weniger Gute.

Zunächst die weniger guten.
Solange bei uns hier in Reutlingen 23 christlche Gemeinden keine ANtwort auf diese Not finden. Solange bei 115.400 Einwohnern immer noch Obdachlose im Vorraum der Commerzbank mtten in der Innenstadt von außen sichtbar übernachten müssen, damit sie nicht erfreien, solange sich die Verantwortlichen der „Vesperkirche“ selbst auf die Schulter hauen vor Stolz, dass sie eine Ausgabetheke für Essen anbieten, statt Gemeinschaft und Nähe – trotz Corona – solange wir keine Räume in unseren Häusern aufmachen, um die Gastfreundschaft mit jenen zu leben, denen das nicht von selbst geben ist. Solange sind wir vom Auftrag Jesu meilenweit entfernt. Solange „bürgerliche Menschen“ sich von o9ben herab über diese Menschen äu0ßern, die „selbst schuld sind an ihrem Schicksal“ – solange beleidigen wir den Namen Jesu. Solange Menschen aus Frust über ihre Lage, selbst den Kragen absaufen, helfen auch Suppenküchen nicht weiter.

Nach 21 Monaten im Status „OFW“ (Ohne festen Wohnsitz) kann ichb Dir sagen: NIcht zurück kehren zu können, weil keiner Dich haben will, Niemanden zum Sprechen haben, weil keiner mit Dir reden will. Allein zu sein, weil keiner Dein Freund sein will. Das ist „Obdachlosigkeit“.

Das Gute an Deiner Aktion: Stell Dir vor, Du kannst nicht zurück. Stell Dir vor, keiner will Dich. Stell Dir vor, es sind nicht 24 Stunden mit begrenzter Wirkung sondern Tage ohne Ende. Und dann geh hin und tue, was Jesus Dir aufträgt. Sei gesegnet und von Herzen geliebt..Danke für Deinen mutigen Selbstversuch. Schalom.

Samuel Wolff
Editor
3 Jahre zuvor

Lieber Holger,

vielen Dank, dass du deine Gedanken dazu geteilt hast.

Wohl wahr, dass die Lage der Obdachlosen sehr ernst und die Situation nur unzureichend gelöst ist, auch sollte man als Christ sicher das eigene Verhalten und seinen Auftrag immer wieder überdenken. Allerdings war mein Artikel nur sehr bedingt darauf ausgelegt. Mir ging es darum: Wer Jesus hat, dem ist aller irdischer Reichtum und Stolz und menschliche Anerkennung zweitranging, da der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, ihn durchdringt. Dies ist eine Anregung sowohl für Obdachlose, trotz all dieser Umstände ein erfülltes Leben zu führen, als auch für reichere Christen, sich von ihrem Reichtum zu lösen und trotzdem zufrieden zu sein.

Natürlich war diese Aktion nur auf 24 Stunden begrenzt und dementsprechend auch die Erfahrung. Dennoch scheint mir der Apostel Paulus solche und noch schlimmere Situationen zu kennen und in diesen eine sehr friedensbringende Erfahrung gefunden zu haben.

Gottes Segen, Gnade und Frieden wünsche ich dir.