Voll im Stress, leer im Herzen

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Voll im Stress, leer im Herzen

Keine Frage: Frauen leben länger. Nicht immer und nicht alle, aber im Durchschnitt. Die relative Kurzlebigkeit des männlichen Modells liegt nicht am Design oder der Bauart, sondern an der Beanspruchung und mangelnden Wartung. Kurz gesagt: Männer tendieren dazu, mehr im Stress zu sein und sie kümmern sich schlechter um die eigene Wellness. Herzinfarkte, Bluthochdruck, Alkoholkonsum, häufigere Unfälle im Straßenverkehr, selbst Körperverletzung und Tötungsdelikte haben einen gemeinsamen Nenner: Stress.

Was Männer schwächt und schneller tötet

Stress macht krank, unglücklich, leistungsschwach und aggressiv. Doch „Stress“ ist nicht gleich „Stressor“. Die Herausforderungen, denen wir ausgesetzt sind, erzeugen nicht automatisch auch eine Stressreaktion. Und das Rezept „weniger ist mehr“ gilt nur für eine Minderheit der stressgeplagten Menschen. Stress entsteht durch Überforderung wie durch Unterforderung, und ob eine Herausforderung über- oder unterfordert, hängt von vielen Faktoren ab. Stressoren können Eustress (positive Energie, Kreativität, Konzentration usw.) oder Disstress (das, was man landläufig Stress nennt) auslösen.

Für das Thema „Beruf und Stress“ gibt es Zahlen der Berufsgenossenschaften und der Krankenkassen. Und die halten eine große Überraschung bereit: Die Berufstätigen mit der höchsten Gefährdung für stressbedingte Erkrankung sind nicht etwa die Lehrer, Manager, Krankenpfleger oder Mediziner. Die kommen zwar auch viel zu häufig vor, aber auf Platz eins findet sich der Beruf des – Pförtners! Gefolgt von Hausmeister, Reinigungskraft und Altenpfleger.

Pförtner? Was ist denn daran stressig? Bei zweitem Hinsehen versteht man den Pförtner. Was aus Stressoren Stress macht, ist nämlich nicht in erster Linie die Quantität, sondern die Qualität der Arbeit. Vier Faktoren entscheiden, ob Leistungsdruck einen Menschen beflügelt oder lähmt:
– Kann ich meine Begabungen entfalten?
– Habe ich die Möglichkeit, meine Arbeit selbst zu steuern?
– Sehe ich den Sinn meiner Tätigkeit?
– Welchen Einfluss hat meine Arbeit auf meine privaten und beruflichen Beziehungen?

Das Berufsleben von Menschen, die ständig nahe am Burn-out „entlangschrammen“ oder längst daran erkrankt sind, wird von der Uhr bestimmt und nicht vom Kompass. Sie empfinden den Druck, in immer kürzerer Zeit immer mehr leisten zu müssen und immer weniger leisten zu können. Doch die Quantität ist nicht das eigentliche Problem – die Arbeit müsste nicht mehr oder weniger, sondern anders sein.

Je größer der Stress, desto enger der Blickwinkel: Ein Symptom des beginnenden Burn-outs ist, dass man sich zunehmend ausgeliefert fühlt. Die subjektiv erlebten Möglichkeiten, das eigene Leben zu steuern, werden immer geringer. Das Gefühl, ein fast bedeutungsloses Rädchen im Getriebe zu sein, lähmt die Kreativität.

Mir liegt es fern, angesichts der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und des wachsenden wirtschaftlichen Druckes, dem sich viele Unternehmen ausgesetzt sehen, eine einfache Lösung vorzuschlagen. Doch der Teufelskreis sieht leider so aus: Burn-out verursacht einen Tunnelblick und lähmt die Kreativität. Das führt zur einseitigen Lösungssuche: „weniger“ anstelle von „anders“. Diese Einengung der Wahrnehmung führt zu mehr Stress, mehr Stress führt zum Burn-out. Wenn das Leben nur noch nervt, kann der Kopf schlecht Visionen entwickeln. Hoffnungslosigkeit macht hilflos. Hilflosigkeit entnervt. Was hilft dagegen?

Eigene Begabungen entfalten

Um aus dieser Schleife herauszukommen oder besser: um gar nicht erst hineinzugeraten, ist ein gutes Gespür für die eigenen Begabungen, Stärken und Schwächen unerlässlich. Was tue ich gerne? Wovor graut mir? Was fällt mir leicht? Was kostet viel Kraft?

Schema-F-Ratgeber scheren alle über einen Kamm: Alle Männer sind im Grunde nur auf der Suche nach Abenteuer, kämpfen mit Inbrunst, kommunizieren ungern, wollen Prinzessinnen beeindrucken und so weiter. Vorsicht, Falle! Wer sich mit diesen Männerbildern identifiziert, wird leicht blind für die eigene Psyche und stört die Selbstwahrnehmung.

Es gibt sicher einige – vielleicht wenige – unglückliche Menschen, die schlicht und einfach ein Zahnrädchen im Getriebe sind und tatsächlich nichts bis wenig verändern können. Die meisten, die ihr Leben nicht selbst leben, sondern sich fremdgesteuert leben lassen, tun das aber aus Angst vor Fehlern, aufgrund von Perfektionismus oder weil sie gelernt haben, andere machen zu lassen. Sie gehen auf Nummer sicher, weil sie unsicher sind, oder haben ihr kreatives Potenzial nicht entfaltet, weil sie dabei nie gefördert wurden. Es geht also um innere Einstellungen, die aus Herausforderungen Stress machen. Wer keine Fehler riskiert, wird jeder neuen Situation mit Ängsten begegnen. Von Henry Ford wird berichtet, dass man ihn gefragt habe, wie man ein so erfolgreicher Unternehmer wie er werden könne. Seine Antwort: „Verdoppeln Sie Ihre Fehlerquote!“ – Ob Martin Luther mit seinem „Pecca fortiter!“ („Sündige tapfer!“) etwas Ähnliches gemeint hat, nämlich, dass durch das Evangelium befreite Menschen lieber die Gefahr eingehen sollten, etwas Falsches zu tun, als gar nichts?
Selbststeuerungsmöglichkeiten zu entdecken, heißt, einen eigenen Weg zu finden und nicht immer den ausgetretenen Trampelpfaden zu folgen.

Sinn finden

Ein Stressor, der bei sinnvollen Aufgaben unvermeidlich ist, wirkt viel weniger stressig als ein sinnloser, nerviger Reiz. Vergleichen Sie den inneren Stress, der sich bei Ihnen entwickelt, wenn
a) nachts um zwei aus der Garage des Nachbarn lautes rrrrennn-ten-ten-ten-ten erschallt, weil der 15-jährige Sohn die Umwelt wissen lässt, dass er ein neues Mofa besitzt, mit dem Stress, den sie innerlich erleben, wenn Sie
b) nachts um zwei ihr fieberkrankes, weinendes Kind durch die Wohnung tragen, um es zu beruhigen.

Wobei geht Ihr Puls höher? Welche Ruhestörung verursacht mehr rote Flecken am Hals? Eben! Wenn der Frust sinnvoll ist, halten wir ihn viel besser aus. Was sinnvoll ist, macht zufrieden. Allerdings streben sehr viele Menschen nicht nach Zielen, die sinnvoll sind, sondern reiben sich für Ziele auf, die – so zeigt die Forschung – nicht zufrieden und glücklich machen. Und, ganz überraschend: Das, was wir uns am häufigsten wünschen, macht auch nicht zufrieden: Gesundheit. Studien an mit Krebs, Rheuma, AIDS oder Diabetes schwer erkrankten Menschen zeigen, dass diese Menschen mit ihrer Krankheit ein ebenso zufriedenes Leben führen wie andere. Manche zeigen sogar eine höhere Lebenszufriedenheit – allerdings nicht, weil sie krank sind, sondern weil die Krankheit sie dazu gebracht hat, einige der Dinge zu tun, die wirklich zufrieden machen. Zahlreiche Studien zeigen, was Menschen wirklich zufrieden macht: Dinge tun, die man gut kann. Anderen helfen. Freundschaftliche Kontakte pflegen. In funktionierende Liebesbeziehungen investieren. Und am stärksten: innere Einstellungen wie Dankbarkeit, Optimismus und Vergebungsbereitschaft entwickeln.
Wer nach diesen Zielen strebt, erreicht sie meistens. Was nicht heißt, dass Besitz, Gesundheit oder Bildung nicht auch erstrebenswert wären. Aber sie sollten eher Nebenprodukte des Strebens nach sinnvoller Aktivität, guten Beziehungen und einem „Herz am rechten Fleck“ sein.

Beziehungen pflegen

Wer niemanden hat, mit dem er seine Freuden teilen kann, ist wirklich ein armer Mensch. Ob bei der Arbeit oder zu Hause: Alles, was man tut oder lässt, wird erst wertvoll durch die Menschen, die etwas davon haben und mit denen man sein Leben teilt. Trotzdem opfern viele Menschen ihre wichtigsten Beziehungen auf dem Altar der Arbeit oder des Erfolgs. Doch wirklich genießen werden sie dieses Opfer nicht.

Dem Körper Gutes tun

Neben den bereits genannten seelischen Aspekten der Stressbewältigung spielt der Körper eine wichtige Rolle. Leider gehen Männer oft sehr viel weniger sensibel mit ihm um, als es inzwischen viele Frauen tun. Wenig Schlaf, falsche Ernährung, Bewegungsmangel und fehlende Entspannung sind die Killerfaktoren, die aus Stress Krankheiten machen. Dabei muss man wahrlich kein Gesundheitsfanatiker, Rohköstler, Sportler oder Meditationsmeister sein, um wirksam vorzubeugen. Im Gegenteil: Wer es übertreibt – egal was –, lebt kürzer. In der Regel reicht es aus, wenn man genussvoll und vielseitig isst, dreimal in der Woche den Puls eine halbe Stunde lang auf 130 bringt, den regelmäßigen Mittagsschlaf oder gute Pausengewohnheiten pflegt – und wenn man den Ausknopf des Fernsehers vor Mitternacht findet! Denn Abschalten per „Dröhnung“ funktioniert zwar oft im Kopf, ist aber für den Körper Stress.

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