In einem Gespräch mit einem jungen Mann fiel mir auf, dass er ständig von seinen Freunden sprach. Auf meine Frage hin, was für ihn Freundschaft sei, hatte er keine Antwort und fragte nach meiner Definition: „Für mich ist ein Freund jemand, mit dem ich mich über die Bedeutung unserer Beziehung austauschen kann, zu dem ich Vertrauen habe und der mich geistig inspiriert.“ Er meinte, laut dieser Definition hätte er keine Freunde. Seine Beziehungen seien eher oberflächlich oder als Bekanntschaften zu bezeichnen.
Diese Beobachtung mache ich in der Seelsorge-Beratung öfters. Viele Menschen, vor allem Männer, können kaum Freunde benennen. Manche haben sie als Jugendliche gehabt und sie dann verloren. Es ist normal, dass es Freunde für Lebensabschnitte wie zum Beispiel die Kindergartenzeit oder die Schulzeit gab. Aber als Erwachsener stehen andere Interessen im Mittelpunkt, und man entwickelt sich unterschiedlich weiter.
Ideal finde ich es aber, wenn man mindestens ab dem zweiten Lebensjahrzehnt aus jedem Lebensabschnitt ein bis zwei Freunde mitnimmt. Wir alle brauchen Freunde, weil noch so viele oberflächliche Kontakte, auch nicht der beste Ehepartner, diesen Beziehungsaspekt ausfüllen können.
Was ist ein Freund?
Echte Freunde gönnen sich nur wenige Menschen. Ohne Freunde verpassen viele Menschen die schönsten Erfahrungen der Welt. Bei Freunden fühle ich mich aufgehoben und akzeptiert, wie ich bin. Sie geben mir das Gefühl, dass ich liebenswert bin. Sie helfen mir, den schweren Schrank zu transportieren, wenn ich umziehe. Sie fangen mich in einer Notsituation auf. Sie fragen nach, wie es mir geht. In Freundschaftsbeziehungen steckt noch etwas Tieferes, das uns zunächst gar nicht bewusst ist. Es ist ein Ort, wo wir uns weiterentwickeln können, wo wir Anregung und Unterstützung zu weiterem Wachstum, zur weiteren Reife unserer Persönlichkeit finden.
Warum haben viele Menschen kaum Freunde?
Eine Ursache liegt in der mangelnden Beziehungsfähigkeit, deren Ursprung oft in fehlenden Vorbildern zu suchen ist. Immer wieder stelle ich fest, dass Menschen, die keine oder kaum Freunde haben, Eltern hatten, die das nicht vorgelebt haben.
Hinzu kommt der übersteigerte Individualismus, der es schwer macht, Rücksicht zu nehmen, sich zu arrangieren und Kompromisse zu machen. Dieser Individualismus wird durch unsere Mobilität, durch die Anforderungen der Leistungsgesellschaft mit dem dazugehörigen Stress und durch den Medienkonsum ständig verstärkt.
Manchmal sind es auch Grenzverletzungen des Lebens in Form von Enttäuschungen, seelischer, körperlicher oder sogar sexueller Gewalt, welche die Fähigkeit für tiefe Beziehungen beeinträchtigt haben. Es kann die Ehepartnerin sein, die ihren Partner nicht gerne für die Pflege von Freundschaften freigibt. Männerfreundschaften scheitern aber auch oft daran, dass Männer es nicht gewohnt sind, ihre Gefühle und ihre persönlichen Sorgen zu definieren. Wer sich nicht öffnet, wird keine tiefen Freundschaften finden. Wer sich im Laufe des Lebens nicht wirklich um andere bemüht, wird im Alter in der Regel immer einsamer und isolierter.
Wie gewinnt man Freunde?
Freundschaften werden einem oft unerwartet geschenkt: Wir lernen bei irgendeiner Gelegenheit einen Menschen kennen, und dieser bringt plötzlich etwas zum Klingen. Wir spüren so etwas wie eine innere Verwandtschaft. Dabei können Übereinstimmungen eine Rolle spielen: Musikalische Begabungen, Frömmigkeitsstile, die gleiche Geschwisterposition, Krankheiten oder sogar Krankenhausaufenthalte oder gleiche Berufe. Aber auch die Ergänzungen sind hier zu nennen. Es kann die Faszination der Erscheinung sein, die Fähigkeit des anderen, einen zu verstehen, die Sprache, die andere Kultur, der Humor, die angenehme Ausstrahlung oder die Gesprächsfähigkeit. Manche unbewussten Regungen wecken in uns die Sympathie für den anderen. Wir sagen dann, dass die Chemie stimmt, und damit meinen wir ein ganzes Bündel an mehr oder weniger unbewussten Regungen und Wahrnehmungen.
Manchmal geht es uns so, dass wir dieses „Angerührtsein“ wohl spüren, aber nicht wagen, auf den betreffenden Menschen zuzugehen – vielleicht, weil es Unterschiede in Rang und Bedeutung gibt, wir fühlen wir uns unwürdig.
Wie fördert man die Freundschaft?
Letztlich können wir Freunde nicht machen, wir können aber dafür offen sein. Immer dort, wo wir eine Sympathie für einen Menschen in uns wahrnehmen, können wir entsprechende Schritte unternehmen. Sie ermöglichen eine Annäherung, aus der eine Freundschaft wachsen kann. Schon der Philosoph Seneca prägte den Satz: „Wenn du geliebt werden willst, dann liebe.“
Wenn wir einander mit Wertschätzung und Bewunderung begegnen und die Facetten der Zugehörigkeit ständig erweitern, entsteht etwas Besonderes und sehr Bereicherndes. Meist dort, wo wir Schwächen zugeben, unsere Gefühle definieren oder der eine sich für den anderen etwas einfallen lässt, entsteht Freundschaft. Manchmal ist auch ein Opfer an Zeit, Geld und praktische Hilfestellung erforderlich, die die innere Beziehung unterstützen kann. Der gemeinsame Glaube an Jesus Christus kann eine Freundschaft zusätzlich sehr bereichern.
Was aber für alle Freundschaften gilt: Sie leben von Offenheit und Vertrauen. Immer wird Zeit erforderlich sein für die Pflege von Freundschaften, damit man einander seine Lebenswelten erzählen kann, miteinander kreativ bleibt und sich miteinander geborgen fühlt. Das alles setzt ein hohes Maß an Vertrauensbereitschaft voraus. Auch braucht jede Freundschaft Zeiten der Banalität, der gemeinsamen Unternehmung und einfach der Bestreitung des Alltags.
Nur zu oft sprechen Menschen von Freunden, die gar nicht wissen, dass sie so bezeichnet werden. Es ist und bleibt ein Ehrentitel, und wir sollten sparsam damit umgehen; und wenn jemand den Titel „Freundschaft“ für die Beziehung als zu dicht ansieht, ist das zu akzeptieren, denn jeder kann nur ein gewisses Maß an wirklichen Freundschaften pflegen.
Welche Freunde brauchen wir?
Im Idealfall haben wir fünf Freunde:
1. den Ermutiger, der uns in ausweglosen Situationen zu einer neuen Sicht der Dinge verhilft;
2. den Wahrheitsliebenden, der uns offen und ehrlich sagt, was ihm an uns auffällt, ohne uns zu verletzen.
3. den Busenfreund, dem wir intime Dinge anvertrauen können;
4. den Beständigen, der flexibel und unkompliziert für unseren Lebensalltag zur Verfügung steht;
5. den Freund aus einer anderen Generation. Damit erweitern wir unseren Horizont. Vor allem, wenn wir älter werden, sollten wir einen guten Freund aus der jungen Generation haben, der uns vor Verbitterung und Weltfremdheit bewahrt.
Manchmal werden diese Eigenschaften auch von zwei oder drei Freunden verkörpert. Wer hat schon solche fünf Freunde? Es ist schon sehr gut, wenn man ein oder zwei sehr gute Freunde hat.
Wenn der Freund ein Konkurrent für den Ehepartner wird
Ein guter Freund wird manchmal als Konkurrent für den Ehepartner empfunden. Das ist dann der Fall, wenn man mit seinem Freund oder seiner Freundin mehr Zeit verbringt, offener ist oder sogar die Eheprobleme in den Gesprächen eine starke Rolle spielen. Darauf sollten Freunde sehr achten, dass die Priorität der Beziehung zum Ehepartner bestehen bleibt. Vor allem intime Angelegenheiten sollten wir in der Ehe kommunizieren, oder, wenn es nicht anders geht, bei einem neutralen Seelsorger. Eine Ehe darf durch eine Freundschaft nicht leiden, sondern soll dadurch gestärkt werden.
Aber das sollten wir auch bedenken: Manche Anliegen und Interessen können manchmal mit einem Freund des gleichen Geschlechts ehrlicher und anders geklärt werden. Wenn ein Konkurrenzempfinden oder sogar eine ungesunde Bindung von einem der Beteiligten wahrgenommen wird, besteht Klärungsbedarf.
Gefahren der Freundschaft
So wie jede Beziehung gefährdet ist, ist es auch die Freundschaft: Zu hohe Erwartungen, Empfindlichkeiten, Eifersucht, Hörigkeit oder seelische Abhängigkeiten können sich schnell in gute Freundschaftsbeziehungen einschleichen. Oberflächliche Gespräche, Kontrollbedürfnisse, Missbrauch von Offenheit und sexuelles Verlangen können oft unbemerkt dazu beitragen, dass man sich auseinanderlebt und eine wertvolle Freundschaft zerstört.
Eine Gefahr besteht auch darin, dass man den anderen schwer neben sich hochkommen lassen kann. Freunde sollten sich immer mitfreuen können, wenn der andere etwas Schönes erlebt oder einen Vorteil hat. Neid, Eifersucht, Schadenfreude müssen in der Wurzel erkannt und beseitigt werden. Dazu bedarf es manchmal ein Gespräch mit einer neutralen Person.
Freundschaften müssen nicht von lebenslanger Dauer sein. Es ist normal, dass in verschiedenen Lebensabschnitten andere Interessen und andere Freunde eine wichtige Rolle spielen. Aber Freundschaften sollten immer aufgeräumt sein. Vor allem Krisensituationen von Freundschaften sollten wach und ehrlich beobachtet werden. Nur, wenn wir sie ehrlich anschauen, werden wir sie bewältigen und damit zur Vertiefung der Freundschaft beitragen können.
Es kann durchaus sein, dass man Freunde aus dem entsprechenden anderen Geschlecht hat. Das kann durchaus für Ledige, aber auch für Verheiratete gelten. Das kann nur solange gut gehen, solange keine erotische Anziehung eine starke Rolle spielt. Hier bedarf es einer besonders ehrlichen Aufmerksamkeit. Eine Ehe darf dabei nie gefährdet werden. Wenn jemand aber überhaupt keine Freunde des gleichen Geschlechts findet, ist das zumindest fragwürdig, und eine Nachfrage für die Gründe ist angebracht.
Der beste Freund ist Jesus
Ob wir nun Freunde haben oder nicht – kein noch so guter Freund oder noch so guter Ehepartner kann uns die letzte Einsamkeit wegnehmen, die uns vor allem in Krisensituationen des Lebens bewusst wird. Der beste Freund ist und bleibt Jesus Christus. Im Johannes-Evangelium (Joh 15,15) nennt Jesus seine Jünger Freunde. Das gilt auch für die, die ihm heute nachfolgen. Das ist kein Freund zum Anpacken, aber ein Freund, der immer bei uns ist und mit dem man leben und sterben kann.
Vor Jahren habe ich einen Kururlaub durchgeführt. Dort fehlten mir die Familie und die Freunde. Ich habe es genossen, mit diesem besten Freund, Jesus Christus, Spaziergänge zu unternehmen und viel mit ihm zu reden. Wie gut, dass er immer mit uns geht. Diese Freundschaftsbeziehung gilt es besonders zu pflegen.