Vater sein – „Wie viel Vater darf´s denn sein?“

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Vater sein – „Wie viel Vater darf´s denn sein?“

Welche Rolle spielt das „Vater Sein“ im Vergleich zum „Mutter Sein“? Wie viel „Vater“, wie viel „Mutter“ braucht ein Kind im Laufe seiner Entwicklung, um ein gesunder Erwachsener zu werden?

Bei einer gesunden Ernährung ist es wichtig, dass sie in einer guten Balance zu den Bedürfnissen des Körpers steht. Ein Zwanzigjähriger darf und muss sich anders ernähren als ein Sechzigjähriger, weil deren Lebensbedürfnisse und -gewohnheiten sehr unterschiedlich sind. In ähnlicher Weise muss auch eine gute Erziehung im Einklang mit den Bedürfnissen des Kindes stehen.

Die Bedeutung der Mutter scheint bei der Frage der Verteilung plausibler und direkt einleuchtender zu sein. Schwieriger wird es anscheinend bei der Frage: Welche Rolle soll dabei der Vater spielen? 

„Zu viel Vater“

Einen Vater zu haben, ihn ganz zu haben, davon kann man eigentlich nicht genug bekommen. Viele erleben jedoch die Gegenwart ihres Vaters in ihrem Leben als so mächtig bestimmend, dass sie darunter leiden und sich in ihrer Selbstständigkeit gehemmt und bedroht fühlen. Der Vater als zu starker und störender Magnet bei der Eigengestaltung des Lebens tritt nicht nur in Form von repressiven, gewalttätigen Aktionen auf. Häufig zeigt es sich durch väterliche Leistungserwartung, die gepaart ist mit starkem Liebesbeweis beziehungsweise Liebesentzug.

Erwartungen gerecht werden

Ein Jugendlicher, 20 Jahre alt, kommt in die Beratungsstelle und klagt, dass ihm seit dem Tod des Vaters vor drei Jahren nichts mehr richtig gelinge: Mehrere Lehrstellen abgebrochen, mehrere Freundschaften mit Mädchen gescheitert, viele gesundheitliche und seelische Probleme. Der Vater war nach dem zweiten Herzinfarkt gestorben und hätte ihn „einfach so allein gelassen“.

Er sei sein „großes Vorbild“ und habe sein ganzes Leben bestimmt. Der Vater hätte sich aus kleinsten Verhältnissen „emporgearbeitet“, hätte sich kaum etwas gegönnt. „Er ließ auch bei mir keine Fehler durchgehen, war sehr streng mit mir. Er hat viel mit mir Schach gespielt, wollte immer, dass ich gewinne, aber gegen ihn hatte ich keine Chance“.

Angst, zu versagen

Der junge Mann wurde zusehends mit seiner Stimme depressiver. Er machte sich Vorwürfe, in der Berufsschule versagt zu haben. „Was würde mein Vater dazu sagen? Er würde mich nicht verstehen!“ Der junge Mann fühlte sich sehr einsam. Sein Leben war zu sehr vom Wertesystem des Vaters bestimmt, fixiert auf Leistung und Erfolg. Auf der Strecke blieb sein eigener Lebensplan, seine eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Die Einsamkeit des jungen Mannes wurde dadurch noch verstärkt, dass seine Mutter seiner Meinung nach „immer schon keine große Rolle spielte“. In Wirklichkeit hatte sie sich in die Rolle einer schweren Alkoholikerin hineinmanövriert.

In solch einer Beratung kommt es entscheidend darauf an, die „Programmierungen“ seines Vaters langsam  aufzulösen. Es kommt darauf an, seine eigenen Wünsche zu entdecken und zu verwirklichen, und er hatte eine ganze Menge davon. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt: „Mein Junge, wenn du gewinnen willst, dann musst du besser spielen als ich!“ Er muss sein „eigenes Spiel“ finden. Nur so läuft er nicht Gefahr, der Todesspirale von Leistung und Erfolg nachzugehen, die sein für ihn „übermächtiger Vater“ vorgelebt hatte und die ihn mit 41 Jahren in den Herztod trieb. Der Junge muss in der Tat besser „spielen“ als sein Vater, um wirklich zu „gewinnen“.

Sexueller Missbrauch

Nach solch einer Beratung würde man allen Vätern Mut machen, eine Balance zu suchen zwischen den berechtigten Erwartungen und Wünschen an die Kinder und der Fähigkeit, sie so zu lieben, wie sie sind und wie sie selbst werden möchten.

Zu den Problemen, die sich aus einem Gefühl „zu viel Vater“ ergeben, muss man auch jene Erlebnisse hinzurechnen, die eine verheerende Wirkung auf die Seele der Kinder haben: der sexuelle Missbrauch der Väter an ihren Kindern. „Zu viel Vater“ bedeutet hier, dass sich ein Vater etwas zuschreibt und herausnimmt, was ihm nicht zusteht: das „Recht“, seinen Kindern gegenüber so etwas wie ein Liebhaber oder ein Sexualpartner sein zu wollen.

„Zu wenig Vater“

Vielleicht ist der sexuell missbrauchende Vater eher jemand, der „zu wenig Vater“ ist, weil er dem Kind etwas nicht geben kann, was er ihm geben muss: Schutz und Geborgenheit. Der „abwesende Vater“ ist ein häufiges Gesprächsthema in einer Lebensberatungsstelle.

Welche Rolle der Vater in der Erziehung seiner Kinder zu spielen hat, hat sich im Laufe der Geschichte sehr gewandelt. Nach der vorletzten Jahrhundertwende wurde die Mehrgenerationsfamilie von der modernen Kleinfamilie abgelöst. Durch die Industrialisierung kam es zu einer klaren Arbeitsteilung zwischen Mann (auswärtiger Ernährer) und Frau (Haushalt und Kindererziehung).

„Vaterlose Gesellschaft“

Zuvor gültige Bilder, was Mann und Frau, was Vater und Mutter zu tun hatten, gerieten in Bewegung. Diese Entwicklung bezeichnete man mit „Entväterlichung“ (M. Horkheimer) oder mit „vaterloser Gesellschaft“ (A. Mitscherlich). Innerhalb der Familie verlor der Vater seine erzieherische Kompetenz. Es herrschte ein großer Mangel an einer notwendigen väterlichen Auseinandersetzung.

„Neue Väterlichkeit“

Erst gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts veränderte sich dies. Man spricht sogar vom sogenannten „coming out“ des Vaters (T. Knijn). Mitversorgung, -betreuung und modifizierte pädagogische Aufgaben gehören zum neuen väterlichen Engagement. „Neue Väterlichkeit“ bedeutet, dem Kind gegenüber gefühlvoll, partnerschaftlich und kompetent aufzutreten.

Die Entwicklung läuft von der vorwiegend strafenden, machtausübenden Instanz hin zur emotional zugänglicheren Ansprechperson, die sich wie die Mutter in die Erziehung einreiht, zunehmend auch ein Freizeitpartner wird. Vor allem nimmt der Vater seine realistische Funktion als Identifikationsobjekt in der psycho-sexuellen Entwicklung seiner Kinder wieder mehr wahr. 

Unsicherheiten

Freilich ist diese Vaterrolle noch längst nicht selbstverständlich, stellenweise immer noch mit großer Scham und Unsicherheit verbunden – neue Ängste entstehen: „Feminisierung der Vaterrolle“, Verlust „echter Männlichkeit“ etc. Man trifft dieses „neue Vaterbild“ erst vermehrt in der eher noch kleinen Zahl von betreuenden, alleinerziehenden oder sich im Erziehungsurlaub befindenden Vätern und „Hausmännern“. Immer noch ist die Rollenunsicherheit mancher Väter sehr groß.

Auf der anderen Seite wird vom Gesetzgeber durch das neue Kindschaftsrecht etwa für Väter nichtehelicher Kinder neuer Mut und die Chancen geschaffen, im „gemeinsamen Sorgerecht“ diese Vaterrolle auch wahrnehmen zu können. 

Die Vaterrolle ist zwar mit vielen Unsicherheiten behaftet, dennoch gab es zu keiner Zeit so viele Spielräume, die Vaterrolle selbst so zu gestalten, dass sie toleranter, solidarischer, großzügiger, zärtlicher, fürsorglicher und kooperativer werden kann. Vater- und Mutterrolle werden sich wahrscheinlich künftig in einer „elterlichen Kultur“ (R. Stein) eher angleichen – nicht ersetzen. Es gilt, die Kluft zwischen dem Pol eines „abwesenden Vaters“ und dem Pol eines „Übervaters“ zu überwinden. Beides ist nicht hilfreich, macht unselbstständig und einsam.

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